Für B. und K.
Richard Norbert Gommern (2005)
Der Gerwinbaum
Allen die verloren haben, nur sich selbst nicht
In einem nicht zu fernen Land, dessen klangvollen Namen nur noch die Alten kennen, wohnten einmal gute, einfache Menschen. Sie waren offenherzig, ehrlich und neugierig auf all jene Dinge, die die
Zeit ihnen zu schenken vermochte. Außerdem liebten sie alles, was sich in ihrem kleinen, unscheinbaren und doch so wunderschönen Teil der Welt aus dem Boden zauberte.
Dieses kleine Land strahlte soviel Idylle und Frieden aus, dass alle, die es bewohnten – ob Pflanze, Getier oder Mensch – sehr, sehr gern hier waren.
Denn die Menschen lebten damals noch im Einklang mit allen, und so waren sie noch nicht viele. Dünn besiedelt wuchsen an den Seen kleine Städte ins Land oder schmale Dörfer säumten die holprigen
Pflasterstraßen.
Hier waren die Leute wirklich noch mit der Erde verbunden. Sie säten, pflanzten und ernteten gern. Die Erde an ihren Händen machte sie stolz, war sie doch ein Zeichen für redliche, selbst ernährende
Arbeit.
In den Städten verlief das Leben etwas anders, obwohl ihnen ihr dörflicher Ursprung noch immer anzusehen war. Sicher, es herrschte täglich buntes Markttreiben, und die Handwerker drückten der
Stadtbevölkerung ihren prägenden Stempel auf.
So war es auch in Gerwin. Sie war die schönste unter den Städten. Man nannte sie würdevoll „Juwel der Mark“.
In Gerwin waren die Straßen etwas breiter und ornamentiert gepflastert. Saubere Wege führten an ihnen entlang. Bäume spendeten im Sommer Schatten und im Herbst Früchte. Der Markplatz war zu den
vielen Stadtfesten immer reichlich geschmückt und bot den Menschen vielerlei Vergnügungen. Nachts war die Stadt beleuchtet. Niemand musste befürchten, im Dunkeln zu Schaden zu kommen. Gewiss war der
Reichtum an Geld und Gut nicht gleichmäßig verteilt. Jedoch kannten die Menschen keinen Neid. Denn alle Bürger waren reich an Güte und Vertrauen.
Einer von ihnen war Botho, ein junger angesehener Baumeister. Denn er veränderte durch sein Wirken – Haus um Haus - das Bild der Stadt auf seine einzigartige Weise. Viele gutbetuchte Bürger, die aus
ihren „nun ja viel zu engen“ Heimen heraus wollten, gingen zu ihm, um sich einen kleinen Palast von ihm bauen zu lassen. Botho fand Freude daran. Er war es zufrieden, wenn seine Arbeit gelobt und
bestaunt wurde.
So kam es eines Tages im späten Lenz dazu, dass er selbst so viel Geld beisammen hatte, um das in die Jahre gekommene Fachwerkhaus des reichen Bäckers Mehl für seine schöne Frau Katharine und sich zu
erwerben.
Dem Hause waren seine ereignisreichen Tage schon längst anzusehen. Viele Sommer hatte es erlebt; und zu viele Winter hat es verlassen, kalt und leer in der Richtergasse gestanden. Doch Botho und
seine Frau machten sich mit Elan und Ausdauer ans Werk. Außen erhielten die Gefache einen frischen weißen Anstrich. Die Holznägel im Gebälk wurden tiefer eingeschlagen, und die Balken wurden frisch
geölt. Sie füllten das Gebäude Stück für Stück mit ihrer Persönlichkeit. So kam es, dass das Haus sie aufnahm und für die zwei die Heimstatt und ein guter Freund wurde.
Auf dem Hinterhof hatte sich der große Garten wild ausgebreitet. Er begann mit einem kurzen Hang, in dem ein alter tiefer Brunnen hinein gelassen war. Selbst an den heißesten Tagen führte er kaltes,
klares Wasser, so dass die beiden nie in Furcht leben mussten, er könne dereinst versiegen. An den Hang schloss sich eine prächtige Wiese an. Sie war mit Pilzen übersät und schien von
Beerensträuchern bewacht zu sein.
Einige Wochen nach ihrem Einzug führte Katharine der Weg weit hinter die Wiese. Die Vormit-tagssonne war hell und kraftvoll. So lief die junge Frau über das Grün auf die Alle der Kastanien zu. Hier
war sie heute zum ersten Mal. Vergnügt schritt sie aus. Sie musste jedoch feststellen, dass schon nach wenigen Metern, hinter einer scharfen Kurve versteckt, ein dichter Hain junger Bäume ihren
Spaziergang beendete.
Neugierig suchte sie nach einem Weg.
Ein enger, zugewachsener Pfad führte sie tiefer hinein. Zuerst ging sie an Kastanien vorbei, dann an Birken, später an Kirschen und Pflaumen. Als sie eine Lichtung inmitten des Hains bemerkte,
wuchsen Orangen und Birnen am Wegesrand. Nun betrat sie die Lichtung. Ungehemmt entfuhr ihr ein Laut des Erstaunens, und sie sagte:
„Oh, wer bist du?“
„Ich bin der Gerwin“, antwortete eine sonore Stimme. „Das hier sind meine Lande. Und auch die Stadt, die meinen Namen trägt, ist meine Stadt. Seit vielen hundert Jahren stehe ich nun hier und bewache
das Tal, die Seen und alle Bewohner.
Du bist die erste, die mich erblickt hat, die erste seit dreiundvierzig Jahren. Ich zeige mich dir, weil ich weiß, dass du ein guter Mensch bist und die Zukunft dich prüfen wird.“
Katharine hatte dem Baum zwar gelauscht, aber nicht zugehört. Zu entzückt war sie von ihm.
„Du bist alt, Gerwin, und doch bist du schön. So etwas wie dich habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.“
Sie setzte sich unvermittelt. Ohne den Mund zu schließen und mit verzücktem Blick saß sie nun vor dem einzigen Baum auf der Lichtung. Er war ein sehr alter Apfelbaum, der einen kräftigen, etwas
knorrigen Stamm hatte. Seine Wurzeln lagen wie ein Pfauenrad um den Stamm herum und gruben sich kraftvoll in den Boden. Auch seine Äste waren stark und reich verzweigt. Die Blätter dagegen waren von
zartestem Grün. Katharine erinnerte es an das Grün frisch aufgebrochener Knospen. Nur waren diese Blätter voll entwickelt!
Nicht die Gestalt des Baumes versetzte Katharine so in Erstaunen. Es waren die vielen hundert Blüten, die den Apfel schmückten. Sie hatten zwar die Form gemeiner Apfelblüten, aber ihre Farbenpracht
war unbeschreiblich, ja fast magisch.
Als sie sich gefasst hatte, sagte sie zum Apfelbaum:
„Deine Blüten sind schön! Ihre Farben sind so ungewöhnlich! Sie blühen in weiß und in lila, in rosa und himmelblau. Und überall sind sie besprenkelt mit braunen und purpurnen Tupfen. Du bist der
schönste Baum, den ich je sah!“
Ach, wie wurde ihr das Herz leicht und sie ging – den Blick noch einmal wendend – beschwingt und wiegend nach Hause.
Dort traf sie ihren Mann. Sie erzählte ihm, was sie entdeckt hatte. Sie beschrieb den alten Baum voller Vergnügen und schreckte auch vor kleinen Übertreibungen nicht zurück.
Botho hörte seiner Frau aufmerksam, schweigend und lächelnd zu. Als sie geendet hatte, sagte er:
„Dieser famose Apfel wird eine reiche Ernte geben. Wir können Mus kochen und Apfelstrudel backen und Bratapfel...Ich freue mich sehr über deinen Baum. So kommen wir gut über den Winter!“
Er gab ihr einen feuchten Kuss auf die Wange und sagte mit einem Blick auf die noch immer schiefe Kammertür:
„Es dauert nur eine Stunde. Dann habe ich die Tür wieder im Lot, und sie schließt wieder. – Wenn ich unser Haus betrachte, so ist schon viel weniger zu reparieren. Darüber bin ich sehr froh.“
Da küsste Katharine ihn auf den Mund und entgegnete:
„Und ich bin sehr stolz – auf dich.“
Immer wenn Katharine die Zeit fand, den alten Apfel zu besuchen, so tat sie es. An manchen Tagen verweilte sie bei ihm bis in die Abenddämmerung. Dann, wenn das Mondleuchten an Kraft gewann und die
hellsten Sterne schwach den Himmel bevölkerten, schien der Baum sein Antlitz zu wechseln. Glänzend schimmerte seine Borke, und die zarten Blüten sahen aus, als wären sie aus hauchdünnem Silber
getrieben.
Ja, dieser Apfelbaum war etwas sehr schönes. Wer ihn sah, konnte kaum den Blick von ihm wenden.
An einem dieser Abende fasste sich Katharine ein Herz und stellte dem Gerwin-Baum eine Frage, die sie schon lange quälte. Denn so schön er auch war, er blühte noch immer. Kein Blütenblättchen hatte
er bisher verloren. Kein zartes Äpfelchen hing in den Zweigen. Das verwunderte sie.
Sie trat ganz nah an ihn heran, streichelte seinen Stamm, zog eine Blüte an ihren Mund und flüsterte leise:
„Verblühen deine Blüten denn nie? Bist du so prachtvoll in jeder Jahreszeit? Hast du keinen einzigen Apfel für uns?“
Der Baum schwieg.
Auch Katharine schwieg. Zum Abschied streichelte sie ihm die Rinde und ging. Erst zuhause fand sie die Worte wieder.
„Botho“, sagte sie zu ihm, „Botho, ich glaube, er wird keinen Apfel tragen.“
„Du sagtest doch, ihm wüchsen die schillerndsten Blüten“, antwortete ihr Botho.
„Aber er wird uns nicht nähren. Keinen Apfel können wir essen, kein Mus kann ich kochen. Wozu ist er nütze?“
„Er steckt voller Leben so wie du und ich. Ist das etwa nichts?“
So kümmerten sie sich beide nicht mehr um den alten Baum und lebten ein liebevolles Leben. Die Tage glitten in die Wochen, und schon war der Sommer nur Erinnerung. Das Jahr wurde länger, die Abende
wurden dunkler. Der Winter brachte das Weihnachtsfest, den Schnee und die gefrorenen Seen. Die Kinder rutschten die saften Hänge johlend hinab oder jagten in Schlittschuhen weit über das Eis bis hin
zur Eisenbahnbrücke. Dann reckten die Schneeglöckchen die weißen Köpfe, die Luft wurde milder und urplötzlich war der Winter vorbei.
Als vom großen Schneemann auf dem Marktplatz nur noch eine Pfütze voller Kohlengruß geblieben war, gebar die Frau ihrem Manne einen Sohn.
„Unser Sohn sieht so friedlich aus. Er ist schön, so schön wie du, meine Prinzessin.“
Bei seinen Worten wurden ihre Augen hell und strahlten. Sie gab ihrem Mann einen Kuss auf den Mund und fragte im Anschluss:
„Wie soll der kleine Mann heißen? Soll er deinen Namen tragen?“
„Nein“, antwortete Botho seiner Frau. „Er soll seinen eigenen Namen mit Stolz tragen dürfen. Denn er wird sein eigenes Leben führen, wenn er erwachsen ist. Er soll nicht den vergebenen Namen seines
Vaters führen. So hat es mich mein Vater gelehrt, so soll es auch zukünftig sein.“
Als er ging, wandte er sich noch einmal um und sprach zu Katharine:
„Suche du bitte einen Namen für unseren Sohn. Gewiss wirst du den richtigen Namen finden.“
Dann begab er sich hinunter in die Werkstatt. Er rückte die fast fertige Wiege aus Kirschbaumholz an sich heran und stach mit dem Beitel die letzte Verzierung in das Fußende hinein. Als er seine
Arbeit beendet hatte, trug er die Wiege in die Stube. Vorsichtig legten sie ihr Kind gemeinsam in das neue Schaukelbett.
„Nun“, sagte Botho, „wie heißt unser Sohn?“
Seine Frau schaute ihm tief in die Augen und sagte:
„Wenn du damit einverstanden bist, so heißt dein und mein Sohn Jonas. Das ist ein großer Name, den er voller Würde tragen kann.“
„So heiße dann Jonas, Sohn. Deine Mutter und ich haben es für dich so beschlossen.“
Jonas war für beide Eltern das schönste Geschenk, das sie je erhalten hatten. Er hatte die schalkhaften Augen des Vaters und seine knubbelige Nase. Die Mutter hatte ihm die vollen Lippen und das
runde Kinn vererbt. Ja, er war ein wirklich hübsches Baby.
Er war der Mittelpunkt der Welt. Nichts war wichtiger als er.
Vater und Mutter verbrachten viel Zeit mit ihm. Sie sangen ihm Lieder vor, wenn er in seiner Wiege lag und einschlafen wollte. Sie badeten ihn gemeinsam. Sie brachten ihm zusammen das Krabbeln und
die ersten Schritte bei. – Der Zusammenhalt zwischen den Dreien wuchs und war so fest, das sie meinten, Nichts auf der Welt könne sie trennen.
Eines Tages, Jonas war ein sportlicher und gescheiter Knabe von etwa zehn Jahren, da ging Katharine allein zum Markt, um Gemüse und Brot für die Familie einzukaufen.
Der Tag heute schien ihr trüber als üblich. Sie schaute in den Himmel und sah, wie die Sonne hinter grau-schwarzen Wolkenbergen verschwand. In dem Moment, wo sie den Blick wieder nach unten wandte,
stand vor ihr ein ergrautes Mütterchen mit langen, strähnigen Haaren. Sie krächzte:
„Willst du in die Zukunft schauen, schöne Frau? Willst du es? Dann gib mir eine Hand; und ich sage dir, was dir niemand sonst sagen kann.“
Katharine wollte ihre Frage gerade verneinen, als das Weib sie fest bei der Rechten griff und ihre Hand öffnete.
„Nicht!“ sagte Katharine. Doch da hatte die andere ihre Hand ganz dicht vor die Glubschaugen gezogen.
„Halt still!“ -
Die Alte in den schäbigen Fetzen schaute ihr auf einmal ganz tief in die Augen und sprach dann nur zwei Sätze:
„Dunkle Wolken werden deine Sonne hüllen. Finde die Kraft, sie zu zerschlagen.“
Danach ließ sie Katharines umkrallte Hand frei, drehte sie sich ab von ihr, und fort war sie. Keinem war nie wieder auch nur ein Schatten der zerlumpten Frau begegnet, so als hätte es sie nie
wirklich gegeben.
Besorgt entschloss sich Katha-rine, sofort den Heimweg anzutreten. Erst gehend, dann laufend legte sie die Strecke zurück. Wie von einem Sog gezogen, kam sie atemlos zuhause an. Sie riss die Türen
auf und rief nach ihrem Sohne. Aber keine Antwort hallte wider.
Sie trat ein in die Stube des Kindes. Dort stand ihr Mann traurig am Bett des Knaben. Der Junge schien zu schlafen.
„Mir begegnete eine Alte auf dem Weg, die mich in Sorgen versetzte. Warum schläft Jonas am Tage? Sprich doch, Botho, sprich!“
Da nahm Botho sein Eheweib vorsichtig in den Arm und sprach ganz leise zu ihr:
„Jonas war vergnügt und spielte. Da wurde es am Himmel finster. Urplötzlich war er blass. Er schleppte sich an mir vorbei und stürzte auf den Stufen. Ich nahm ihn auf und legte ihn zu Bett. Seitdem
ruht er reglos auf dem Lager.“
„Lass uns Wache halten, lieber Mann. Wenn unser Sohn die Augen öffnet, so soll er nicht alleine sein.“
Sie nahmen auf zwei Stühlen platz und warteten gespannt darauf, dass der Junge die Augen aufschlug und dass der Schrecken bloß nur ein böser Traum gewesen sei.
Nur dem war nicht so.
Inmitten der Nacht erwachte das Kind und sagte zu Vater und Mutter:
„Es ist schön gewesen, euch zu haben. Ihr wart immer gut zu mir. Jedoch muss ich gehen ohne Wiederkehr. Ich bitte euch, setzt mir keinen Stein. Nah bei euch will ich im Hofe ruhen.“
Er schloss die Augen und entließ den schwachen Atem seiner Lunge. Friedlich gestorben lag er vor den einsamen Eltern. Der tiefe Schmerz stieg ihnen in die Kehlen und in die Augen. Sie schluchzten und
weinten so sehr und lange, dass sie erst mit der aufgehenden Sonne damit aufhörten. So groß war ihre Trauer und Verletztheit.
Um den letzten Wunsch seines geliebten Buben zu erfüllen, begab sich Botho auf den Hof und grub ein großes, tiefes Loch in die Wiese. Bei jedem Spatenstich rollten ihm die Tränen von den Wangen und
fielen in das Gras.
Gemeinsam holten die Eltern Jonas. -
Als sie an dem ausgestochenen Loch standen und ihren toten Sohn gerade in die Grube legen wollten, da erhob sich der Wind und zerzauste ihnen Kleidung und Haare. Aber nicht genug damit. Mit wilder
Entschlossenheit fuhr er in die aufgeschüttete Erde, schleuderte sie in die Lüfte und ließ sie mit dumpfem Aufprall in der Grabstelle versinken. Erst als das Grab wieder vollständig gefüllt war,
verringerte sich des Windes Tosen.
Das Donnern und Dröhnen wich einem Gesang, der seinen Anfang weit hinter der Wiese zu nehmen schien.
Botho schaute sich verwundert um. Er war unsicher und wusste sich keines Rates mehr zu bedienen. Stumm sah er zu, wie flink dagegen Katharine den kleinen Sarg des Sohnes öffnete, seinen leblosen
Körper vorsichtig in beide Hände legte und sprach:
„Liebling, hast du Vertrauen zu mir?“
„Ja, Katharine, auf immer und ewig.“
„So lass mich gehen. Ich bin mir auf einmal ganz sicher, in dem, was ich tun muss. Nur wir zwei, Jonas und ich, werden auf die Lichtung zum Gerwin-Baum gehen. Noch weiß ich nicht, was geschehen wird.
Aber mein Innerstes zieht mich zu ihm. Verbleibe hier und folge mir nicht.“
Da wandte sich Katharine zum Gehen und begab sich, ohne ein weiteres Wort, auf den Weg in die Alle und in den Hain. Botho blieb stumm und – wie ihm geheißen – auf der Wiese zurück und folgte ihr nur
mit den Augen.
Der Hain schien Katharine schon zu erwarten. Statt des Pfades, der sonst zum alten Apfel geführt hatte, fand sie eine breite, freie Schneise vor, an deren Ende der knorrige Baum inmitten der Lichtung
zu sehen war.
Langsam ging sie den Weg entlang. Noch immer trug sie ihren Jonas auf den Händen. Am Rande der fächerartigen Wurzeln des Apfelbaums blieb sie stehen und sagte:
„Der Wind gab mir ein Zeichen. Er warf das Grab zu und sang von dir. Hier bin ich mit meinem toten Sohn Jonas. Was nun, alter Apfel, soll ich tun?“
Da bewegte der Baum seine Wurzeln. Genau an der Stelle, wo Katharine stand, schoben sie sich auseinander und gaben ein irdenes Gewölbe frei.
„Überlass mir deinen Erstgeborenen. Hier, im Werg meiner Wurzeln, sollst du ihn zur Ruhe betten. Vertraue mir, denn ich kenne die Welt viel länger als du.“
„Aber er ist mein einziges Kind. Nimm ihn mir nicht!“
„Ich nehme ihn dir nicht, Katharine. Ich will über ihn wachen. Komm, wann immer du willst, hierher, um seiner zu gedenken.“
Zögernd stieg Katharine zwischen die Wurzeln. Sie küsste ihren Sohn ein letztes Mal und legte ihn in die warme Erde unter den Baum.
Kein Laut war zu hören: Kein Raunen des Windes. Kein Gesang der Vögel. Kein Rascheln der Blätter. Nur die Wurzeln schlossen sich über Jonas und lagen wieder da wie das Rad eines Pfaus. Nichts
erinnerte an das, was eben geschehen war. Die Lichtung sah unberührt und unverändert aus.
Doch tief in ihrem Herzen barg Katharine diese Begebenheit.
Noch einmal sprach sie zum Baum:
„Ich vertraue dir, wie ich nur Botho vertraue. Pass gut auf meinen Jungen auf. – Ich werde euch bald besuchen.“
Dann ging sie langsam und mit leeren Händen wieder zu ihrem lieben Mann.
Botho stand wartend auf der Wiese. Er eilte seiner Frau entgegen und sie ihm. Sie umarmte ihn, und er drückte sie fest an sich heran.
„Vertrau mir, Liebster. Unserem Jonas kann nichts passieren. Denn er wird von einem guten Freund bewacht. - Vertrau!“
So gingen sie schweigend und nachdenklich zum Haus zurück und sprachen an jenem Tage kein Wort mehr.
Jeden Tag nun ging Katharine zum Gerwin-Baum und zu Jonas. Voller Schwermut kam sie dort an. Denn ihr Sohn fehlte ihr doch sehr. Manchmal blieb sie vom Morgen bis zum Abend. Erst, wenn sie die
Gewissheit in sich spürte, dass der Gerwin-Baum nicht gelogen hatte und es Jonas gut geht, erst dann verließ sie wieder die Lichtung und kehrte in ihr Haus zurück.
Auch Botho konnte seinen geliebten kleinen Jungen nicht vergessen. Oft war sein Blick betrübt und Erinnerungen plagten ihn. Sie schmerzten ihn so sehr, dass er nicht mehr arbeitete. Er hatte sich
innerlich vom bunten Leben der Stadt verabschiedet. Manchmal blieb er einfach regungslos den ganzen Tag auf seinem Stuhl sitzen. Er aß nicht mehr und er trank nicht mehr. Selbst der herrlichste
Braten, den Katharine nur für ihn zubereitete, schien ihm nicht zu schmecken. Nur die Gedanken an seinen verlorenen Jonas füllten ihn aus. Nichts anderes hatte noch Platz in seinen Gedanken.
So vergingen die Wochen und Monate. So vergingen aber auch die Jahre. Zweimal folgte dem Herbst der Winter und dem Winter der Lenz.
In dieser Zeit lebten Botho und Katharine nur in ihrer eigenen Welt. Das Haus, das sie bewohnten, war als einziges Band zwischen ihnen geblieben. Sie kannten das Leben des Anderen nicht mehr.
Eines Nachts wachte Katharine von einem Traum auf. Ein Riese schien darin mit den Armen zu rudern und überlaut ihren Namen zu rufen. Da hörte sie wirklich einen Ruf durch das offene Fenster schallen.
Eine Stimme, die sie schon lange nicht mehr vernommen hatte, rief sie an, zu ihr zu kommen. Es war der alte Apfelbaum, der sie rief.
Flugs warf sie sich den Hausmantel über, schlüpfte in die Pantoffeln und rannte so schnell sie konnte zu ihm. Der Baum stand, wie von einer unsichtbaren Sonne beleuchtet, hell und strahlend auf der
Lichtung. Völlig außer Atem sagte sie ihm:
„Ich habe so lange auf ein Zeichen und ein Wort von dir gewartet. Nun endlich rufst du mich. Was, mein Freund, soll ich tun?“
„Katharine, ich habe lange geschwiegen. Doch die Vögel trugen mir zu, welche Stille in eurem Hause herrscht. Das habe ich Jonas erzählt.“
„Du hast es Jonas erzählt? Das hast du getan?“
„Ja, das habe ich. Wir beide haben uns beratschlagt. Ich habe dir etwas mitzuteilen. Deshalb rief ich dich.“
"Was, lieber Baum, möchtest du mir sagen?“
„Ich spreche nun im Auftrage deines Sohnes: ‚Seid euch wieder zugetan und eine Familie, die mich im Herzen trägt. Seid aber auch Menschen, die sich dem Leben stellen und sich den Leuten zuwenden.
Denn glücklich möchte ich euch in meinem Herzen wissen.’“
„Ich will gern tun, was du verlangst. Nur ich weiß keinen Weg“, antwortete Katharine verzweifelt.
„Ich weiß einen Ausweg: Besuche mich nur noch selten. Habe Augenmerk auf deinen Mann. Sei ihm gut. Sprich mit ihm. Liebe ihn. Sei mit ihm vergnügt. – Alles braucht Zeit. Auch das. Aber versuche,
diesen Weg zu beschreiten.“
Als er geendet hatte, warf sich die Nacht erneut wie ein schwarzes Tuch über den Hain. Einzig das schwache Sternenlicht wies Katharine den Weg zurück.
Am Bett zurück sah sie ihren Mann noch immer unruhig schlafen. Sie legte sich zu ihm und nahm ihn das erste Mal nach unendlich langer Zeit wieder liebevoll in ihre Arme. Sie betrachtete intensiv sein
Gesicht. Er schien ihr sehr, sehr alt geworden:
‚Die Sorgen haben ihn alt gemacht. Warum habe ich es die Jahre über gar nicht bemerkt? – Ja, lieber Mann, der alte Apfel hat Recht: zu schön ist das Leben. Ich will mit dir vergnügt sein.’
Mit dem ersten Hahnenschrei erwachte der nächste Morgen. Auch Botho öffnete die Augen. Er spürte den warmen, verschlafenen Körper Katharines an seiner Seite. Er streichelte ihr das lange dunkelblonde
Haar und fragte sie:
„Was machst du hier?“
„Ich liege an deiner Seite, Botho.“
„Aber warum? - Die ganzen bittren Jahre über habe ich allein gelegen. Du hattest keine Augen und keine zarte Hand für mich. Du warst nur bei ihm, unserem Freund, wie du sagst.“
„Ja, so war es. Aber ich will, dass es ein Ende hat.“
Sie küsste ihren Mann auf die unrasierte Wange, setzte sich an das Fußende des Bettes und begann, von ihrem Erlebnis der vergangenen Nacht zu erzählen. Nachdem sie mit ihrer Geschichte fertig war,
fragte sie ihn:
„Zweifelst du noch immer daran, dass der Gerwin-Baum unser Freund ist. Er ist ein Freund. Er ist sogar der beste Freund. Denn er ist der einzige, der uns geblieben ist. Keiner unserer menschlichen
Freunde hat uns nach dem Tode Jonas´ jemals wieder besucht. - Er dagegen blieb uns treu.“
Während sie so sprach, nutzte Botho die Gelegenheit, seine schöne Katharine von oben bis unten zu mustern. Sie war nicht mehr das junge Ding, das er so geliebt hatte. Der Ernst der letzten Monate
hatte tiefe Falten in ihr Gesicht geschnitten. Doch noch immer leuchteten ihre wunderschönen Augen voller Gier nach dem, was das Leben so lebenswert macht. Schon bedauerte er die nutzlos in Gram
verbrachte Zeit und sprach:
„Dein treuer Freund hat Recht. Zu schade ist es um jede kummervolle Sekunde, die je geschehen ist. Lass uns gemeinsam fröhlich sein und auf die Überraschungen warten, die für uns bereitstehen.“
Daraufhin nahm Botho Katharine fest in seine Arme, und sie lagen noch lange beieinander und redeten ihre Ängste und Nöte einfach weg. Keiner der zwei war dem Anderen bös, denn ihre Liebe gedieh von
neuem und blieb unerschütterlich.
In der Folge legten sie gemeinsam wieder mehr Sorgfalt an das Haus. Sie zeigten sich wieder ihren Nachbarn und sprachen in der Stadt die alten Freunde an. Botho war wieder vom Fieber infiziert, durch
seine Ideen und seiner Hände Arbeit, die Stadt, die er so liebte, zu gestalten und zu verschönern. Gäste bevölkerten so manchen Abend ihr Zuhause, und Fröhlichkeit und Gelächter zeugten von
Lebensfreude und Zuversicht.
Katharine begab sich immer seltener in den Hain und besuchte den alten Gerwin-Baum. Er hatte seit jener Nacht nichts mehr gesagt, so sehr sie auch darauf wartete. Er blieb weiter stumm.
Die Tage, Abende und Nächte waren wieder spannend. Ihr lieber Mann zog sie wieder magisch in den Bann. Das Leben, so empfand Katharine, war einfach lebenswert. Nichts auf der Welt konnte schöner
sein. Da schloss sie die Erinnerung an den alten Apfel auf der Lichtung tief in ihrem Herzen ein und ließ sie dort schlummernd zurück.
Das neue Jahr kam. Geschwind reihten sich die Monate aneinander. Bis so gar der September in den Oktober wechselte.
Da sagte der Mann:
„Der Herbst ist für mich das Schönste im Jahr. Die Sonne steht flach und golden. Alles erstrahlt durch sie in neuem Glanz. Endlich werden die Mühen auf Acker und Feld belohnt, und die Bäume tragen
schwer. Reichlich fällt die Ernte aus. – Erinnerst du dich an deinen Freund? An den, der unseren Jonas bewacht? Erzähltest du nicht einmal, er sei voller wunderschöner Blüten? Ein Apfel, der so
blüht, der sollte zumindest in diesem Jahr viele Früchte tragen. Besorg die Körbe! Lass uns gemeinsam zu ihm gehen!“
Überrascht lief Katharine in den Keller, ergriff für jeden zwei ovale Obstkörbe und wanderte voller Erwartung die Alle der Kastanien mit ihrem Gatten entlang.
Am Beginn des Hains hielten sie inne. Da lag die Schneise vor ihnen. Katharine kam es vor, als wäre sie heute etwas breiter als bei ihrem letzten Besuch. Deutlich konnte man den Apfelbaum auf seiner
Lichtung stehen sehen. Seine Blätter waren von zartestem Grün. Früchte erspähte man keine; nur das leuchtende Meer der schillernden Blüten hüllte den Baum in unbeschreibliche Pracht.
Vorsichtig schritten Botho und Katharine an die Mitte der Lichtung. Von den Blüten glitten ihre Blicke den Stamm entlang bis hin zu den Wurzeln, die sich fest in das Erdreich gegraben hatten.
„Das also ist dein Freund, Katharine?“
„Ja, das ist mein und dein Freund.“
„Behütet er dort unten unseren Jonas?“
„Ja, er behütet ihn gut.“
„Eben habe ich begriffen, warum du ihn einen Freund nennst und warum du ihn unseren Sohn bewachen lässt. Er macht seine Sache gut“, sagte Botho noch immer staunend.
Sie ließen ihre Körbe fallen und setzten sich ins Angesicht des Baumes. Sie fühlten sich beide glücklich und geborgen.
Da wuchs jäh ein kleiner Ast dicht zu ihren Füßen aus einem Wurzeltrieb. Vor ihren Augen verzweigte er sich nur zweimal. Der eine Zweig trug eine geschlossene Blattknospe, der andere eine
Blütenknospe.
Plötzlich sprach der Apfel zu ihnen:
„Diese Blüte ist ein Geschenk an euch beide. Sie ist die einzige, die eine Frucht hervorbringt. Es wird nur ein kleiner, runder Apfel sein. Er ist reif an der Jahreswende. Erntet ihn an jenem Tage.
Doch verpasst es nicht, sonst ist mein Geschenk umsonst. Esst ihn nicht, bewahrt ihn gut und pflanzt ihn im Lenz in die Mitte eurer saftigen Wiese. Überlasst euer Geschick der Zeit, und alles wird
sich zufrieden fügen.“
Bald kamen die letzten Wochen des Jahres herangeschlichen. Die Advente vergingen und die Weihnachtstage waren voller Lichter und Glanz. Aus jedermanns Gesichtern sprangen das Glück, die Zuversicht
und die Hoffnung auf ein neues friedensreiches Jahr.
So ward es dann Silvester, der letzte Tag des Jahres.
Botho und Katharine hatte die Worte des alten Apfelbaumes nicht vergessen. Nach dem Mittagessen besuchten sie ihn. Botho pflückte die winzige Frucht, und Katharine verwarte sie gut in ihren
frostgeröteten Händen. Im Keller bekam sie einen Ehrenplatz. Jeden Tag schauten sie nach ihr und achteten darauf, dass sie keine Druckstellen und Flecken bekam.
Bis das Frühjahr anbrach. Die Wiese hinter dem Hause machte Botho nun zur neuen Heimat der kleinen, etwas schrumpeligen Frucht. Er legte sie vorsichtig in das vorbereitete Loch und schob den Aushub
darüber. -
Unendliches Warten begann.
Drei Monate lang tat sich nichts. Erwatungsvoll besuchten die beiden das winzige zugeschüttete Loch. Vergebens.
Als an einem Tage die Sonne höher als üblich am Himmel stand und die Erde feuchter denn je war, durchbrach der Sprössling des alten Apfelbaumes die Kruste und reckte sich dem Licht entgegen.
Schneller und schneller schoss er in die Höhe. Er lud kräftige Äste und Zweige aus, die reich mit dunkelgrünem Blattwerk besäumt waren.
Und er blühte reich.
Katharine und Botho hätten es nicht glauben mögen, hätten sie nicht selbst dabei gestanden und es mit den eigenen Augen gesehen. Glücklich fielen sie sich in die Arme.
„Hast du es gesehen, Botho, hast du es gesehen?“
„Ja, das habe ich. Dieser Baum steckt voller Wunder!“
„Das mag sein, mein Schatz. Doch ganz gewiss ist er voller Leben!“
„So soll er ab heute zu uns gehören, Mitglied unserer Familie sein, Katharine.“
Da wandte sich die Frau dem Baum zu und sprach:
„Ja, so sei es. Sei ab jetzt einer von uns. Es wird dir an nichts fehlen. Nimm unser Versprechen, dass wir dich hüten und pflegen werden, so wie der alte Gerwin-Baum unseren Jonas hütet.“
Da fielen wie durch Zauberhand all die Blüten zur Erde und lagen da, wie ein kreisrunder Teppich. Überall wuchsen nun kleine Äpfel, die formschön und golden am Baume hingen.
„Reiche Ernte“, sagte Botho vergnügt.
„Reiche Ernte!“ sagte auch Katharine. Und singend holten sie die Körbe und pflückten den Baum leer.
Am anderen Morgen beschlossen die zwei, zum alten Gerwin-Baum zu gehen, um sich zu bedanken. Sie zogen sich festlich an und nahmen einen Korb voller Äpfel mit dorthin.
„Guten Morgen, alter Baum. Schau, was für reiche Ernte dein Geschenk uns brachte. Wir haben schon einige Äpfel gekostet. Sie schmecken süß und munden uns sehr. Wir möchten uns bei dir
bedanken.“
„Darum schenken wir dir diesen Korb schönster Äpfel.“
Nun verstummten alle Vögel und kein Ton dran ihnen ans Ohr.
„Ihr habt viel Kraft bewiesen und eure großen Nöte bezwungen. Es schließt sich heute der Kreis“, sagte der alte Apfelbaum. „Euer Schicksal wendet sich. Die Sonne hat die Wolken vertrieben. Dafür
wartet ein Lohn auf euch.
Nicht wahr, Katharine?
Ein Kind wird euch geboren werden. Ein starker Mensch, der das Leben liebt. Es wird ihm nichts geschehen, trägt es eure Liebe in sich.
So bitte ich euch um eines. Lasst mich des Kindes Namensgeber sein: Wenn es ein Junge wird, so nennt ihn Leo; wird es ein Mädchen, so möge sie Lea heißen. Denn so stark wie ein Löwe soll es sein
Schicksal meistern.
Geht nun und gebt all euer Können für das Glück und Wohl dieses Kindes. Lebt im Jetzt und freut euch der Zukunft.
Auch gedenket der Liebsten zur reifen Zeit. Aber lebet!“
Und so geschah es. Sieben weitere glückliche Monate vergingen. Dann kam Katharine nieder, und sie gebar ein Mädchen.