Für Heike
Richard Norbert Gommern (2002 / 2003)
Der geschlossene Himmel
// Einen besonderen Dank an Frau Sabine Gasser - Potsdam - für die hilfreiche Unterstützung. Auch an Dorit für die Geduld: Danke //
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SO ISTS EYN
GROSZER FREVEL
SEYN LEBEN SINNLOS FORT ZUTUHN
WENN ZERSCHUNDN LEUT ZU ERDN WEYLEN WOLLN -
DOCH DAEREN LEYDT ANRUFD DEN SENSZMAN
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AUFBRUCH
Ferienzeit. Die Aufregung der Eltern, ihrer Kinder, Oma, Opa, Onkel und Tante ist vorbei und in Vergessenheit geraten. Die Festessen
als Würdigungen der Anstrengung und der Mühen während der Schulzeit sind schon lange verdaut und abtrainiert. Das Geld, mit dem die anerkennende Verwandtschaft jede gute Note aufgewogen hat, wurde
längst vom Sparschwein gefressen oder der Eismann hat die Münzen in der Hochsommerhitze in leckere Kugeln eingetauscht. Auch der Schrecken für die nicht so guten Noten sitzt nicht mehr ganz so tief;
die Zeugnisse beginnen zu verstauben. Die großen Ferien schrumpfen und werden täglich kleiner. Heute sind sie nicht mehr ganz fünf Wochen lang.
Es ist der frühe Morgen des 22. Juli 1999.
Am Rande der kleinen uckermärkischen Stadt Templin ist vor Jahren – nach der „Wende“ - das so genannte „Vogelviertel“ als Neubaugebiet entstanden. Zwischen „Annenwalder Weg“ und „Neuplachter Weg“
sind neue Straßen und hübsche, moderne Häuser entstanden. Die Städter, die es sich auf Grund ihrer guten beruflichen Situation leisten können, mit etwas handwerklichem Geschick, eigenem Vermögen und
den Krediten der Banken ein Haus zu errichten, wohnen nun in dieser Gegend.
Hier, an einer Straßenecke, liegt gelangweilt ein Einfamilienhaus in der noch tief stehenden Sonne. Die „Reiherstraße“ führt als glatte, schwarze Teerstraße an ihm vorbei. Auf ihrer rechten Seite
biegt der „Kranichweg“ als eine Pflasterstraße ab, deren Steine aus farbigen Betonblöcken bestehen.
Der „Kranichweg“ ist ohne Fußweg. Schmal und gerade mündet er nach wenigen hundert Metern in einer weiteren Straße, die durch die unzähligen geparkten PKW nur noch Platz für eine enge Fahrbahn lässt.
In der Mitte der Pflasterstraße verläuft eine flache Rinne, die regelmäßig durch rostbraune Gullydeckel unterbrochen wird. Die geteerte „Reiherstraße“ dagegen fließt reich gesäumt an den jungen
Häusern vorbei - begleitet von einem ziegelroten Radweg und einem schlichten Fußweg.
Dieser liegt aschgrau im Sonnenlicht. An manchen Stellen schiebt sich Grün durch die Fugen seiner Steine. Der Schachtelhalm vermehrt sich plagenreich, aber auch die blaue Taubnessel quetscht sich
zierlich empor und leistet manch anderem Grün Gesellschaft.
Auf der anderen Seite der Straße erblüht eine lange, in Bordsteinen eingefasste Wiese. Einst als Rasen angelegt, ist sie schon seit Jahren durch die verschiedensten Pollen und Samen prachtvoll und
artenreich geworden.
Nur die „grünen“ Männer und Frauen der Stadt stören das leise Gedeihen zweiwöchentlich in der Sommerzeit. Erst gestern verübten sie den letzten Schnitt. Lautstark haben sie mit ihren Mähern die
Blumen geköpft und die Gräser gekürzt. So wird die Mahd der Himmelsrecker nun Kompost; jedoch die Blüher, die flach über dem Boden kauerten, haben die verstümmelnde Rasur überstanden und sind heute
zu sehen.
Langsam schiebt sich die Sonne über das Haus im angrenzenden Grundstück, lugt über die Ziegel auf die Terrasse und hüllt sie in gleißendes Licht. Die Terrasse wird an der Einfassung schon seit Wochen
durch wild wuchernde Unkräuter belagert. Hier bremste kein glatter Schnitt bisher deren ungestümes Wachstum.
Auf der anderen Seite des Eigenheims sind die Schatten lang. Sie hüllen das Haus in einen kühlen, noch leicht feuchten Luftschwall, der sich allmählich erwärmt. Er fängt den wässrigen Geruch von Tau
über dem Boden ein und schickt ihn in den klaren Himmel des Hochsommertages hinaus.
Diese Hausseite wurde – bezogen auf die Straße - sehr viel niedriger errichtet. So wie das ganze Wohngebiet hat es seine neuen Fundamente in einen Hang voller Sanftmut und natürlicher Unberührtheit
einbetten lassen.
Darum führen Stufen vom Fußweg aufs Grundstück zu. Der Weg teilt den Rasen in zwei winzige Flächen. Gänseblümchen blühen, Löwenzahn mit gelben und weißen Kronen wächst und zieht alle Blicke auf
sich.
Die Kulturpflanzen im Hochbeet aber kämpfen mit dem aufstrebenden Unkraut. Mit dünnen braunen Wurzeln und kleinen runden Blättern verdeckt es die Erdkrumen. Es macht dem gekauften Zierrat die
Nährstoffe streitig. So brauchen die Zuchtpflanzen Schutz und Pflege, Dünger oder gar kunstvollen Schnitt, die Unkräuter nie.
Die Menschen, die hier vorbeikommen, haben einen direkten Vergleich mit dem benachbarten Grundstück. Dort wechseln sich frisch in Form gebrachte Nadelgewächse mit gelb und rot blühenden Sträuchern
ab. Der Boden ist mit Humus angereichert und mit Rindenmulch bedeckt. Nur selten wagt sich missachtetes Unkraut in den Blick des kundigen Gärtners, um sofort herausgerissen zu werden. Ordnung und
Sauberkeit prägen dort das Bild.
Doch hier, auf dem Eckgrundstück, sprechen die Wohlwollenden von Naturbelassenheit und die Unbekümmerten von romantischer Wildheit. Die meisten Menschen sagen jedoch nur:
„Ein bisschen mehr Pflege könnten die Pflanzen auch vertragen. Schau mal hier, wie das wuchert oder da, wie das wächst. Der macht bestimmt nicht viel – oder gar nichts.“
Sie sagen es, denken es, vermitteln es sich durch Blicke und gehen dann ihrer Wege. -
Auch wenn die Sonne tief steht: die Vögel sind erwacht und werden immer zahlreicher. Als Anhänger des widerstreitenden Chorgesangs
haben sie sich ganz in der Nähe versammelt. Begleitet von Geflatter beginnt ein Meisenchor sein Lied - erst zaghaft, dann lauter. Andere Chöre antworten. Das Ensemble der Kleinen versucht die
vermeintliche Niederlage abzuwenden. Mit vollem Klang intonieren die Meisen ihr Gezwitscher. Doch vergebens. Am Haus schluckt der Wind ihr Geträller. Darum fliegen sie – einer nach dem anderen – in
die Höhe, zirkeln einen gekonnten Halbkreis in die Luft und landen in der Nähe der anderen auf der benachbarten Wiese schräg gegenüber. Ihr neues Domizil ist hervorragend und so führen sie ihren
Wettstreit weiter.
Kurzzeitig tritt Ruhe vor dem offenen Schlafzimmerfenster ein. Nur der Wind bläht einen Moment durch den kleinen Spalt in die Gardinen und hält dann inne. Schlaff verdeckt nun der grüne Stoff das
zarte Erwachen des Tages.
Die Vögel haben es sich auf dem Dach des Autounterstandes bequem gemacht und führen von hier aus erneut den unendlichen Sängerwettstreit fort.
Es ist wenige Minuten vor fünf Uhr. Der Wecker würde bald klingeln. Wach ist der Mann noch nicht wirklich. Die vergangenen Tage und Nächte sind nicht spurlos an ihm vorüber gezogen. Der Wechsel
zwischen den Pflichten hat ihn nun fast zwei Jahre beschäftigt.
Er schaut zur Uhr auf seinem Nachtschrank und schaltet müde den schnörkelloser Reisewecker aus, bevor dieser zu klingeln beginnt.
‚In drei Tagen wäre theoretisch Hochzeitstag’, denkt er, ‚der zwölfte. Wer weiß, was die Stunden noch bringen?’
Er schlägt die Decke zurück, hebt die Beine schwerfällig aus dem Bett und setzt sich auf. Eine Weile verharrt er so und lässt den Blick schweifen. Vor ihm steht der große Kleiderschrank und zwischen
Zimmertür und Fenster die dazu passende Vitrine mit Schubfächern.
Von draußen dringen die Lebenszeichen der geflügelten Frühaufsteher.
Das Bett neben dem seinen ist leer. Die Decke ist unberührt und das Kopfkissen ist glatt. So wie die Tage und Nächte vorher.
Er steht auf und geht barfüßig die Treppe in das Gästebad hinunter.
‚Ja, das große obere Bad ist noch immer nicht zu benutzen’, denkt er. ‚Woher sollten sie auch das Geld nehmen? Anderes ist einfach wichtiger gewesen: die häufigen Untersuchungen, die
Klinikaufenthalte von Heike, meine Besuchsfahrten und die langen Telefonate, wenn ich einmal keine Zeit hatte.’
Doch er ist schon lange nicht mehr weit gereist. Denn seine Frau hat hier im Ort vor mehr als zehn Tagen ein Einzelzimmer erhalten.
In der Dusche muss er das Wasser länger laufen lassen. Erst in einer drei Viertel Stunde wird die Heizung programmgemäß das Wasser erhitzen.
Allmählich wird der Brausestrahl warm. Der Mann duscht und wäscht sich die Haare. Er drückt den Hebel der Mischbatterie nach unten und der letzte Wassertropfen schlägt hart und dröhnend auf der
emaillierten Blechwanne auf.
‚Einen Augenblick die Stille genießen, nur diesen einen’, denkt er.
Er verlässt die Dusche und umhüllt sich mit dem Badetuch. Dann rubbelt er sich kurz über die dunkelblonden Haare, die ihm morgens den verleugneten Seitenscheitel auf den Kopf zaubern.
In das Waschbecken lässt er heißes Wasser zum Rasieren ein. Vorsichtig schabt er sich die Stoppeln von Gesicht und Hals.
‚Na bitte.’
Nach dem Zähneputzen verlässt er das Bad und schleicht die Treppe hinauf. Zwischen den Kinderzimmern hält er inne und lauscht. Nichts ist zu hören, außer dem Pfeifen einer verstopften Nase. Seine
kleine achtjährige Tochter Carolin hat mit der Pollenallergie zu kämpfen. Doch sie schläft zufrieden, ebenso wie ihre große Schwester Anne im Raum gegenüber.
Er geht ins Schlafzimmer. Aus dem Schrank und den Schüben nimmt er die benötigte Wäsche und kleidet sich an. Er steigt die Treppe hinab; mit jedem Schritt knarren die ausgetrockneten Holzstufen in
ihrer Verankerung.
‚Nur nicht die Kinder wecken, sie haben einen leichten Schlaf’, denkt er.
DURCH DIE STADT
Draußen, vor der Tür, saugt sich die Morgenluft mit Wärme voll. Die Sonne vertreibt die letzten hartnäckigen Reste der Nacht und ist
bestrebt, sich in den Zenit zu schwingen. Der Schatten vor dem Haus hat auf seiner Wanderschaft an Geschwindigkeit gewonnen.
Fast geräuschlos schließt er die Haustür, geht auf das Auto zu und bleibt dort stehen.
Eine junge Kastanie spiegelt sich in der Heckscheibe. Sie ist schlecht zu erkennen, denn noch immer weht der Wind gelb-grüne Pollen von den Feldern auf die Häuser.
Die handartigen Blätter des Baumes stehen nicht mehr im zarten, unschuldigen Grün des Frühjahrs. Aber es ist auch nicht dunkel und strotzend. Die Hitze der vergangenen Tage hat die Blätter vergilbt.
Trostlos hängen einzelne Finger herab und von den Kerzenblüten sind nur wenige übrig geblieben. Sie sind kraftlos abgefallen oder ein Windstoß hat sie aus der symmetrischen Form gerissen.
Im Auto dreht der Mann den Zündschlüssel und erweckt den Motor zum Leben. Flüssigkeit tropft aus dem Auspuff, und Abgas quillt in gekräuselten Wölkchen heiß nach oben. Mit einer lockeren Linkskurve
fährt der Wagen rückwärts auf die matt schimmernde Straße.
Der Mann kurbelt die Fensterscheibe herunter und blickt einige Sekunden auf die vor ihm liegende Zeile nicht allzu hoher Reihenhäuser.
Das erste Haus ist sein Heim. Gemeinsam mit seiner Frau hat er sich vor drei Jahren bemüht, die Wohnung im Plattenbau zu verlassen. Die rasant ansteigende Miete hat sie beide dazu verführt, für
ein ähnliches Entgelt ein Häuschen ihr Eigen nennen zu wollen. So ist es nach aufreibenden Zeiten zum Kauf dieses Schmuckstücks gekommen.
Sie sind von den Vorzügen ihres neuen Lebensmittelpunktes sehr begeistert gewesen. Der Platz hinter dem Haus hat sie mit uneingeschränktem Nutzen gelockt. Die Zimmer sind groß und die Küche ist
offen, ohne störende Wand und Tür. Letztlich haben die Kinder ihr eigenes kleines Reich und können sich zurückziehen, wenn sie einander überdrüssig sind.
In dem Neubaublock – am anderen „Ende“ der Stadt, wo die Ausfallstraße nach Dargersdorf führt - ist das anders gewesen. Umgeben von gütigen Nachbarn haben sie im vierten Stock des Einganges 15
gelebt. Diese Wohnung ist ihren Ansprüchen immer gerecht geworden. Sie hat aber mit dem neuen Haus nicht mithalten können. Der Balkon hat nur die Aussicht auf die Tankstelle und andere Plattenbauten
bereitgehalten. Selbst die drei Zimmer sind einfach zu klein und der Flur zu dunkel und schlecht nutzbar gewesen.
Zum Schlafen und Lieben hat der kleinste Raum gereicht. Eine Rückzugsmöglichkeit für zärtliche Begierden und sehr offene Worte, für manch nutzlosen Streit in der Nacht und für das versöhnende
Lächeln am nächsten Morgen.
Die beiden Mädchen haben nach dem Wohnzimmer den zweitgrößten Raum erhalten, damit für sie immer Platz zum Spielen sei.
Am Ende der Straße, in der verkehrsberuhigenden S-Kurve, schleicht eine Katze entlang. Ihr Fell ist schwarz und weiß und ocker gefärbt, und große Kleckse wechseln einander ab. Ein wachsamer Hund hat
sie bereits entdeckt und bellt verhalten. Nach wenigen Sekunden schicken zwei Artgenossen ihre Antworten über die mit Wäscheleinen gespickten Rasenflächen - hinweg über niedrige Hecken und kindshohe
Zäune. Dann kehrt erneut Stille ein.
Nach einer Kurve rollt das Auto, an den schlafenden PKW vorbei, den kaum merklich geneigten „Annenwalder Weg“ hinab auf eine fünfarmige Kreuzung zu. Der Motor säuselt leise im vierten Gang und schont
die Ohren.
Die Straße scheint dem Mann in diesem Moment nicht wichtig zu sein. Er ist in Gedanken, und sie fordern ihn auf, ihnen zu folgen. Eilig hastet er ihnen hinterher.
In der Erinnerung öffnet sich eine Tür. Er kennt diese dünne, mit Holztapete beklebte Tür, die den Raum dahinter frei gibt. Es ist das Zimmer seiner Kinder im Plattenbau. Er erinnert sich sehr
genau. Dort ist er immer gern gewesen.
Vor seinem geistigen Auge sieht er seine Töchter ganz deutlich. Die fünfjährige sitzt auf dem Fußboden. Ihre feuerroten Haare haben sich statisch aufgeladen und stehen nach allen Seiten ab.
Hinter den starken Gläsern ihrer Brille leuchten wachsame, aber etwas schief sitzende Augen. Trotz der Operationen im Babyalter wandert die Pupille manchmal auf die Nase zu und versteckt sich einen
erschreckenden Moment lang, ehe sie wieder nimmt Platz in Augenmitte. Konzentriert gleitet der Blick des Mädchens über das am Boden liegende Malheft. Die knubbelige Nase hat Mühe die Brille zu
halten. Das kleine Fräulein schwitzt. Kniend, auf beide Ellenbogen gestützt, schürzt es seine Unterlippe vor. Dann greift es sich einen umher liegenden Stift und beginnt, den vorgedruckten Nadelbaum
violett auszumalen. - Fertig.
Die Jüngste ist an jenem Tag gut drei Jahre alt. Gerade ist sie vom Buddeln nach Hause gekommen. Sie läuft am winzigen Bad vorbei und geht ins Kinderzimmer.
„Hallo Anne. Was machst du?“
„Ich male Wald“, erwidert diese.
Interessiert betrachten beide Mädchen das Bild mit der violetten Tanne. Da geht der Vater auf die Kinder zu, nimmt die müde Carolin auf und drückt sie liebevoll an sich. Schon nach Kurzem
entwindet sich das Mädchen wieder seinen Armen und rutscht am Körper herab.
„Wollen wir mit den Bausteinen spielen?“ fragt der Vater das Kind. Doch sie entdeckt ihre Mutter auf dem Balkon und rennt laut „Maamaa“ rufend mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Lachend küssen
sie sich ab und nehmen sich herzend in die Arme.
Der Mann hingegen öffnet eines der Fenster im Kinderzimmer und lässt einen kühlenden Luftzug durch die Räume wehen. Von hier aus, an der Rückseite des Wohnblockes, hat man eine gute Möglichkeit,
all das zu erleben, was man zu sehen, zu hören, zu schmecken, zu riechen und zu fühlen im Stande ist.
Hier, nach wenigen Metern mit lehmigen Ödstellen genarbten Grüns, beginnt ein Mischwald. Verschiedene Wege beginnen neben dem Wohnblock, gabeln sich, laufen im Wald auseinander, kreuzen an
entfernten Stellen die „Heimstraße“ und vereinigen sich erneut, um gemeinsam auf ein dreigeflügetes Hochhaus zu treffen.
Hinter diesem als Plattenbau errichteten Hotel ruht - nur zwei Steinwürfe entfernt – der „Lübbesee“. Feiner Sand bedeckt den Strand. Mittendrin steht eine Rettungsschwimmerkabine. An ihren
Wänden hängt die Farbe nur noch in großen Fladen oder sie ist schon abgefallen.
Direkt an den Strand grenzt eine weitläufige Liegewiese, die wie ein ausgebreitetes großes grünes Badetuch aussieht. Die Badenden lieben sie: Sie ist Tummelplatz für die Sportlichen.
Sie ist Seelenmassage für die Dahintreibenden, und sie ist Treffpunkt für all diejenigen, die sich lange nicht gesehen haben oder erst kennen lernen oder einfach ihre großen Abenteuer einander
erzählen wollen.
Noch immer blickt der Mann aus dem Fenster hinaus. Der Nadelwald wirft seine Schatten durch die großen Scheiben in das Zimmer, und die untergehende Sonne kann abermals nur mühsam dagegen
ankämpfen.
Allerlei Getier ist zu beobachten:
Die Katzen der Nachbarn tragen ihre Revierstreitigkeiten aus oder sie kommen mit einem Vogel stolz aus dem Dickicht hervor. Für so manchen einzelnen Greis ersetzen sie die Familie. Denn sie
unterbrechen die Einsamkeit der alten Leute an den monotonen Tagen. Für die Kinder jedoch sind sie gelegentliche Spielkameraden, die geneckt oder verwöhnt werden wollen.
Auch die Eichkätzchen springen und huschen. Mit ihren buschigen Schwänzen und den aufgefranselten, spitzen Ohren erfreuen sie den Betrachter. Hurtig bezwingen die flinken Kerlchen die Äste und
Stämme, mal mit der Nase nach oben, mal mit der Nase nach unten.
Doch die meisten Tiere sind schlichtweg nur zu hören. Aus nicht allzu weiter Ferne erklingt das Frage- und Antwortspiel zweier hämmernder Spechte. Abends, in der Dämmerung, vernimmt man dann das
Rufen eines Kuckucks. Am schönsten ist jedoch das Zwitschern der kleinen und kleinsten Vögel, die sich noch einmal versammeln und ein Konzert in voller Besetzung geben, bevor sie - einer nach dem
anderen - verstummen und sich von der Nacht zudecken lassen.
So hätte er es ewig aushalten können. Er ist ein Träumer. Noch heute. Es ist eine schöne Zeit gewesen, aber eben Vergangenheit.
Die fünfarmige Kreuzung ist erreicht. Der Fahrer bremst. Das Asphaltband liegt hinter ihm. Vor ihm hingegen biegt die Hauptstraße nach rechts ab. Wie ein samtener Schal fließt sie in die Ferne
auf Röddelin zu. Neben dem Bürgersteig bewachen ehrwürdige Stadthäuser dessen Verlauf. Zäune der unterschiedlichsten Bauart und Ausführung grenzen das Eigentum der Städter von dem Besitz der
Stadt ab. Tore beflügeln die Zufahrten. Ab und zu unterbricht eine Mauer die Vielfalt der Zäune aus Stahl und Holz.
An einer Ecke dieser Kreuzung beobachtet die „Villa Frohsinn“ das tägliche Geschehen. Sie ist höher als die nachfolgenden Häuser. Ihr spitzes Dach ist mit verwitterten Ziegeln bedeckt. Der
Hauseingang liegt seitlich in einem Anbau; und hinter einem hohen Metallzaun wächst eine mäßig beschnittene, aber leuchtende Laubhecke.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite - zum Kanal hin - stehen dicht die Büsche und Bäume. Sie besäumen den Stadtpark und bilden einen lang gestreckten, artenreichen Wald. Er wird nur von wenigen
Gassen und Wegen zerschnitten, die für Kraftfahrzeuge taugen. Einige Trampelpfade durchziehen ihn und gestalten ihren Verlauf nach den natürlichen Erfordernissen. Ist ein Baum im Weg, so wird er
umgangen.
Die durch Buschwerk und Brennnessel eingefassten Routen nutzen die Radfahrer mehr als die Wandernden. Denn sie sind für die meisten Menschen nur dann von Wert, wenn sie es eilig haben. Dann begraben
sie ihren Sinn für die natürliche Schönheit und hasten, wie mit Scheuklappen bestückt, an ihr vorbei.
Um zwei Flecken Erde macht der Wald einen Bogen. Ein Backsteinhaus mit großem Hof bildet vormittags das Ziel wissbegieriger Kinder. Es ist die Waldschule. Dort werden die Geister der Kinder an die
Gesellschaft angepasst. Die seiner zehn- und achtjährigen Töchter auch.
‚Ach ja, die Kinder.’
Plötzlich fallen sie ihm wieder ein.
‚Hoffentlich habe ich sie wirklich nicht geweckt.’
Er ist in Sorge, sie könnten suchend und verunsichert durchs Haus irren. Nach einem Hitze erzeugenden Anflug von Panik beruhigt er sich wieder: Gestern haben sie gemeinsam beim Abendessen besprochen,
dass er heute anstelle des Opas vor dem Frühstück bei Mutti sein wird. Schweiß drängt sich zwischen seine Hände und der Oberfläche des Volants.
Ein näher kommendes Geräusch lenkt seine Aufmerksamkeit zurück auf die Straße. Auf der „Parkstraße“ fährt ein rotes Moped vor ihm vorüber. Darauf sitzt eine junge Frau. Der Mann folgt ihr mit den
Augen. Ihre schulterlangen blonden Haare fallen ihm besonders auf, denn sie lugen unter dem Helm hervor. Noch eines bemerkt er: Die Frau hat einen Rock getragen – um diese Zeit! Einen himmelblauen
Rock mit weiß abgesetztem Saum. Das knappe Teil flattert durch den Fahrtwind lustig über dem Soziusplatz.
Als das Rücklicht nur noch so groß ist wie Stecknadelkopf, erinnert er sich erneut an die Schule. Sie ist ein Gebäude mit großer Vergangenheit. In der Fassade, die von der Straße her zu sehen ist,
sorgt eine dunkelbraune Tür für Einlass. Kurz dahinter führt die Treppe mit ihren ausgetretenen Stufen steil ins Hochparterre auf einen breiten Korridor, der die Klassenzimmer verbindet. Eine kürzere
Treppe mit flachen Stufen weist dem Besucher den Weg in den Keller, wo sich der Speiseraum befindet. Außerdem schmückt ein kunstvolles Relief eine der Außenwände. Auf der anderen Seite ist ein
imposantes Hirschgeweih befestigt. Beide sind noch bauliche Erbstücke aus der Zeit, als das Haus noch als erste private Forstschule genutzt worden ist.
Neben dem erdgrauen Schulhof beginnt neues, ruhiges, nie Lärm erfülltes Land. Ein geölter Jägerzaun aus halbrunden Latten erstreckt sich von links bis an die nächste Einmündung.
Nimmt man sich Zeit und spaziert an diesem Fleckchen Erde entlang, kann man die Blumenpracht bewundern. Sogar im Winter finden frische Sträuße eine mit Wasser gefüllte Vase. Im Sommer spenden große
Bäume allen Schatten, dem Getier, den Lebensbäumen, den Steinen, den Kerzen mit ihrem roten Windschutz und der Kapelle mit ihren religiösen Symbolen am Ende der Hauptzufahrt.
Früher, als viel zu junger Mensch, hat er die Toten um die Blumen im Winter beneidet. Darum ist er ab und an zu ihnen gegangen und hat sie besucht. Aber nicht, um an sie zu denken oder ihre
Grabstellen zu säubern und zu harken, nein, um sie mit den Augen zu bestehlen, ihren reichen Blumenschmuck zu genießen, der Stille zu lauschen und um die reine Winterluft in sich aufzunehmen wie ein
trockener Schwamm.
Seine Mutter hat ihn einst mit Leben beschenkt; und sein Geburtstag hat sich an der Jahresscheide vollzogen. So sind zu den Feiern nur wenige Blumen von den Gästen mitgebracht worden. Denn Blumen
sind in der DDR selten gewesen zur fruchtlosen Jahreszeit.
Der Mann fährt den Hügel hinauf. Dabei passiert er die mit Stiefmütterchen bestückten Rabatten vor dem Denkmal des Denkers Marx. Die graue Stehle befindet sich hinter den lang gestreckten Beeten.
Marx´ Gesicht strahlt frisch poliert.
Bevor das fehlgeborene Land mit den hohen Idealen und der wirtschaftlichen Magersucht seinen Lebenswillen und danach seine Existenz verloren hat, ist sein Bildnis matt gewesen. Niemand hat
es je wirklich beachtet. Für Keinen ist es von Bedeutung gewesen. Als ideologische Last hat man seine Gedanken empfunden und im engsten Kreise bedrückt von deren misslungener Umsetzung
gesprochen.
Der Mangel an Geld hat nur wenig Erfolgreiches erzeugt. Die bauliche Tristesse und der sichtbare Verfall überall in den Städten und Dörfern, der Straßen und Parke haben als Abbild der gesamten
gesellschaftlichen Verfassung gegolten. Die Fenster der Fernsehgeräte und die Megaphone der Radios haben mit ihren „Westsendern“ dagegen den Wohlstand und den technischen Fortschritt der
unerreichbaren Verwandten hinter dem schießwütigen und beißenden Zaun offenbart.
Erst später - nach der ökonomischen Rettung, die die Menschen zu sehr verändert hat, die die Schatztruhen und die Machtgier der Mittellosigkeit, den zum Nichtstun Verurteilten und den zweifelnden
Seelen gegenüber gestellt hat - hat sich jemand um diesen Trierer gekümmert. Vorher nicht.
Nach dem kleinen Denkmal behüten Alleenbäume zur Linken den Straßenrand. Es sind Kastanien, die so alt und knorrig sind, dass sie begonnen haben, im Innern hohl zu werden. Ihr Geäst und Blattwerk
hüllt die Straße in Schatten. An den biegsamen Zweigen hängen klitzekleine hellgrüne, mit weichen Nadeln bewehrte Kugeln.
Um die Bäume herum zwängt sich der gepflasterte Weg. Niedrige Häuser mit geziegelter oder getünchter Fassade schmiegen sich an den Hügel. Rechts fällt der Blick des Mannes einen kleinen Abhang hinab.
Er sieht eine weite, saftige Wiese mit Blumenbeeten. Zur Linken wird sie von einem breiten Plattenweg eingerahmt. Zur rechten Seite recken am Rand des Waldes die kräftigen Bäume ihre Äste in den
blassblauen Himmel.
Auf der Kuppe angekommen, blinkt der Mann und bremst das Fahrzeug ab. Am Rande der Hauptstraße bleibt er stehen und lauscht. Außer dem Summen des Motors und dem Geräusch des Blinkgebers ist nichts zu
hören.
Die Stadt erholt sich von den abenteuerlichen, ernsten, anstrengenden, kuriosen oder unglaubwürdigen Geschichten der Menschen vom Tag zuvor und saugt die letzten ruhigen Minuten der ausklingenden
Nachtruhe ein.
Da fällt dem Mann ein Gedicht ein. Es macht sich auf den Weg zur Zunge. Etwas unsicher klettern die Verse an seinen Lippen entlang und reihen Strophe für Strophe aneinander. Er hört seine dunkle
Stimme flüstern. Dann erklingt das Gedicht wie von selbst:
Kraft der Stille
Stille durchweht die Stadt
Sie durchschlängelt den kleinen Park
Kriecht einen Berg hinauf
Und streift durch die schmalen Gassen
Bereitwillig öffnet man ihr die Tür
Sie wacht in Büros und im Rathaus
Nachdem die unterste Stufe verklungen ist
Und der Schlüssel dem Schloss „adieu“ sagte
Dann begibt sie sich in die Läden
Diese warten schon lange auf sie
Sie nimmt ihnen das künstliche Licht
Und der Duft der letzten Verkäuferin huscht die Straße entlang
Die Nacht bricht herein
Sie knipst die Laternen an
Hat den schwarzen Himmel im Gepäck
Und bändigt die Wildheit des Windes
Ein verzweifeltes lärmendes Aufbäumen:
Die Kneipentür kracht
Ein Fahrraddynamo surrt monoton
Leise Schritte schrecken die Bürgersteige auf
Und auf Samtpfoten spielt eine junge Katze mit welkem Laub
Dann ist Ruh´
Die Stille hat gesiegt
Erschöpft bedeckt sie die schlummernde Stadt
Und schenkt ihr den ersehnten Frieden
Als er endet, merkt er, dass er noch immer steht, noch immer blinkt und noch immer der einzige ist.
Er befährt die „Mühlenstraße“. Hier, nach der Kurve beginnt sofort die wichtigste Brücke der Stadt. Sie führt über einen Kanal, der den „Stadtsee“ mit dem „Röddeliner See“ verbindet. Zwischen den
massiven Brückenpfeilern fristet eine Schleuse ihr missachtetes Dasein. Früher hat sie eine bedeutende wirtschaftliche Rolle gespielt. Damals haben Frachtkähne die Schleuse benutzt, auch Holz haben
die Menschen geflößt, Fischerboote sind durch sie hindurch auf den Stadtsee gelangt. Einst hat sie der Region geholfen, wirtschaftlich zu erstarken.
Heute ist sie marode und kann gerade noch das Wasser mit ihren rostigen Schotten im See halten.
Von der „Schleusenbrücke“ aus hat man zu beiden Seiten freie Sicht. Nach Links verabschiedet sich das künstliche Bett des Kanals, um sich im See zu verbreitern. Er trägt das Wasser mit Anmut in sich.
Der Wind streicht über die Oberfläche und benutzt dafür ein unschlüssiges Mix aus verscheuchten Nachtlüften und zaghaften Morgenwinden. Sie schaffen kleine, aneinander gereihte Wellen, die ihre Reise
beginnen. Manche von ihnen treibt es schwappend in die Seemitte. Dann haben sie ein langes Leben. Andere zieht es nach kurzer Dauer unaufhaltsam ans Ufer, wo sie gebrochen werden und die dürstende
Erde sie aufsaugt. Ihre Existenz hört auf, als hätte es sie niemals gegeben.
Nur die Winde säuseln. Sie haben unerschöpflichen Tatendrang und schaffen ohne Pause immer neue Wellen, die im Wasser geboren werden und dann den magischen Glanz des jungen Tages erblicken.
Weiter hinten spannt sich ein Holzgerüst über den See. Gehalten durch baumdicke Rundhölzer verbindet die nicht mal zwei Meter breite „Pionierbrücke“ einen Teil der „Nord“ - Stadt mit der Stadtmitte.
Am rechten Ufer führt die holprige Straße den Seeberg hinauf, am linken Ufer hingegen verläuft als Siedlungsstraße die „Fürstenberger Straße“ mit jungen Bäumen und einer stattlichen Anzahl von
Ehrfurcht gebietenden Schlaglöchern in der Fahrbahn in Richtung Stadtgrenze.
Diese Brücke ist, mit Ausnahme des verzinkten, zu niedrigen Stahlgeländers, eine komplette Holzkonstruktion. Die eng gesetzten Planken im Holzgerüst hat der Staub grau gefärbt. Die Wärme des Sommers
hat ihnen die Nässe entzogen und schrumpfen lassen. So sind im Sommer durch die klingendünnen Schlitze die silbrigen Wellen zu erkennen.
Nur für Fußgänger zugelassen, haben es einander entgegen kommende Radfahrer schwer, sich mit dem Lenker nicht zu berühren, und zwängen sich jedes Mal am Gegenverkehr vorbei.
Die Reifen rollen über den dünnen Asphalt. Er bedeckt nur mit größter Anstrengung den ursprünglichen Straßenbelag: gelbes, rotes und blaues Feldsteinpflaster. So liegt ein dünnes Tuch von Komfort
über der ausgefahrenen Kunst traditionellen Straßenbaus.
Rechts, in einiger Entfernung, hinter dem begradigten Wasserlauf und dem Saum der Wiese steht die Ruine eines ehemaligen FDGB-Hotels, das im wirtschaftlichen Gefüge der DDR gut gebucht gewesen
ist. Klare, großflächige Fenster sind einst vorhanden gewesen. Niemand braucht das Haus heute angeblich; nicht die Stadt und kein neuer Investor. Nutzlose Verstümmelungen hat man ihm vor Allem die
Kinder angetan. Sie haben es als Abenteuerspielplatz für sich entdeckt, sind achtlos mit ihm umgegangen, haben Vieles, was ihnen lohnend erschienen ist, einfach mitgenommen und haben lachend die
Scheiben mit Steinen zerstört.
So wartet das alte Hotel vergeblich darauf, dass es aus dem Dornröschenschlaf geweckt wird. Es erinnert sich viel leicht der ungezählten Feste und spürt womöglich den Nachhall der Lachenden und
das Klingen der Gläser. Jedes Lied, das hier einmal zu hören gewesen ist, muss im Besitz dieser Mauern sein. Wahrscheinlich träumt es davon, dass neue freudvolle Lieder in ihm hallen und seine
Existenz einen neuen Sinn erfährt.
Der Mann beschleunigt sein Auto und fährt die Schleusenbrücke hinab. Vor ihm erscheint die mittelalterliche Wassermühle. Dahinter ragt, in roten Backstein gekleidet, das Mühlentor auf. Durch dessen
schattigen Torbogen führt ein Gehsteig, der allen Hackenschuhen das Fürchten lehrt, so holprig ist er.
Am Rand des Steiges sind hüfthohe Stahlpoller wie wachende Soldaten mit der Straße verschraubt. Sie schützen die Fußgänger dieser Seite. Wie ein Zwilling dem anderen, so gleichen sie sich. Doch es
sind mehr. Viel mehr.
Erst seit einigen Jahren verrichten sie dort ihren Dienst. Das unerwartete Dahinscheiden zweier Söhne im nächtlichen Verkehr ließ die Eltern aufschreien und machte sie um unschätzbare Hoffnungen
ärmer. Es hat Zeit gebraucht. Nach einem langen Marathon haben die Stadtväter ihre Entscheidung über die Ziellinie geschoben. In einer fernen Gießerei sind dann die Poller geschaffen worden und tun
hier und heute – nachträglich – Gutes.
Neben dem Torgebäude klafft eine große Lücke. Dort, wo vor Jahrhunderten die stattliche Wehrmauer das Zentrum vor dem Zutritt unerwünschter Personen abgeschottet hat, macht sie seit Jahrzehnten dem
motorisierten und stinkenden Verkehr Platz.
‚Mobilität’, denkt sich der Mann, ‚gilt in diesem Lande als ein besonderes Gut. Dabei reißt sie jährlich tausende Menschen mit sich fort, zerquetscht sie vor oder im Auto, zerschneidet ihnen den
roten Faden für die künftigen grandiosen Pläne und bricht die Gläser ihrer Sanduhren, so dass die Böen den feinen Sand fassen, ihn spielend sinnlos verstreuen und diese Leben qualvoll oder
schlagartig ausgelöscht sind.’
„Auslöschende Mobilität“, hört er sich sagen, so als würde ihm ein imaginärer Beifahrer die Worte ins Ohr raunen.
Die Reifen gleiten leise, und der Mann fährt wieder konzentriert. Im Rückspiegel ist schon das Eiscafe mit der hohen, jetzt leeren Terrasse zu sehen. Nach den langen, mehretagigen Wohnblöcken fällt
sein Blick auf die evangelische Kirche. Sie ist umgeben von einem begrünten Kirchhof und befindet sich an einer sehr kaputten Straße. Unter dieser hat sich der Boden verworfen und tiefe Senken
wechseln sich mit abrupten Erhöhungen ab. Sie zu befahren, ist immer ein Risiko.
Zu ebener Erde wird die Kirche von einer massiven Feldsteinmauer gehalten. Darüber ziert Putz die Wände bis unter das Dach, welches in jungem Kupfer die Kirche schwungvoll krönt. Innen tritt man ins
hohe, nicht ganz glanzlose Schiff. Über dem Eingang erhebt sich hinter einer Brüstung die große, klangvolle Orgel mit ihren zahllosen Pfeifen. Am anderen Ende des Saales steht unter der
geschnitzten Kanzel der schlichte Altar.
Der Mann hat sich immer für einen Menschen ohne Glauben gehalten. Nur am Heiligen Abend hat er auf Drängen seiner Frau jedes Jahr die Kirche betreten. Dort hat er der christlichen Botschaft
gelauscht, sich an dem Orgelspiel und an der Weihnachtsgeschichte erfreut, die von Kindern und Jugendlichen dargeboten worden ist. In der Nähe der Orgel erklingt der Kirchenchor. Seine beiden Mädchen
singen auch mit. Er meint, die große Tochter aus der Vielzahl der hellen Stimmchen herauszuhören. Doch er irrt.
Er fährt am Kaufhaus vorbei. Es ist eines von zweien, das die Menschen mit Dingen versorgt, die sie eigentlich nicht dringend brauchen. Die Fassade ist renovierungsbedürftig. Karge Flächen porösen
Putzes wechseln sich mit Streifen noch haltender Farbe ab.
Seine Schwägerin arbeitet hier. Eine kleine, kräftige, blondierte Frau, eine Frohnatur mit leuchtenden und von Falten gerahmten Augen, mit einem verschmitztem Lächeln und - innerer Stärke. Sie ist
ihm um Jahre voraus. Manchmal bewundert er sie ob ihrer Leichtigkeit, die Dinge zu händeln. „Sie sind nun einmal so“, sagt sie und gewinnt ihnen fast immer das Positivste ab. Er ist in den beiden
vergangenen Jahren selten so gewesen.
Die Ampel zeigt rot und er stoppt an der menschenleeren Kreuzung. Linksabbiegen in die Ladenstraße ist hier verboten. Jeder, der Lust hat, kann aber auf den breiten Gehwegen an den großen
Schaufenstern vorbei bummeln. In der Mitte der Straße wartet dort das zweite Kaufhaus. Vis a vis des „Prenzlauer Tores“, in einem Eckhaus, kann man sich photographieren lassen. Einige Geschäfte
weiter findet man die edlen Auslagen eines Juweliers. Schimmerndes Gold liegt hinter den dicken Scheiben aus - genauso wie türkise und rubinrote Steine an Ketten und Bändern.
Ein paar Schritte weiter bietet ein Geschäft Brillen und Gläser an. Das ist sein Stammoptiker. Alle drei, die kleine Anne, seine Frau und er kaufen hier ihre Brillen. Stets sind sie zufrieden
gewesen. Nur die kleine Carolin ist hier nicht Kunde. Ihre Augen sind scharfsinnig und gut.
Gleich rechts neben der Ampel beginnt der mit faustgroßem Granit-Pflaster bedeckte Marktplatz. Er ist als zaunloses Rechteck konzipiert. Auf einer Aufschüttung in der Mitte thront - umgeben von
vielfarbigen Blumen - das Kriegerdenkmal als Zeichen der Erinnerung an unsinniges Sterben.
Die runde Säule mit der Kugel und dem Kreuz steht vor dem ehemaligen Rathaus, genau in der Flucht der Rathaustüren. Das alternde Gebäude präsentiert sich stolz wie ein Schloss. Seine Fenster in den
Etagen tragen das Licht in unzählige Räume. Die Dächer verlaufen flach gen Himmel und treffen sich am First. Ganz oben ragt ein Uhrenturm heraus. Er dient einem steinernen Adler als Horst. Mit halb
angezogenen Schwingen überblickt er das Areal und ist der Wächter des Hauses.
Innen steigt die knarrende Treppe hinauf bis in die Büros und in den Boden. Still ist es im Haus geworden. Maschinen und Möbel haben den Platz aufgefressen, und die Enge ist gierig gewachsen. So
konnten die Herren des Rates mit den Räumen nicht mehr viel anfangen, sind umgezogen und arbeiten nun im Stadthaus in taghellen Räumen.
Das alte Rathaus ist längst in Vergessenheit geraten. Nur manchmal verirren sich Besucher in den musealen Mauern.
Die Ampel leuchtet grün und der Mann fährt los, um kurze Zeit später links abzubiegen. Rechts blickt er einen Hang hinunter auf den leeren Besucherparkplatz des Ärztehauses, das an der großen
Kreuzung gegenüber der Polizeiwache steht. Spatzen spielen dort und jagen einander.
Nur wenige Meter weiter befindet sich das Stadtkrankenhaus. An seiner Rückseite, hinter einem hohen Zaun, ist ein einzelnes eingeschossiges Haus mit hoher Treppe zu sehen: die
Frühgeborenenstation.
Hier hat sein Erstgeborenes, dass sechs Wochen zu früh „geschlüpft“ ist, die Liebe und Fürsorge der Schwestern erhalten. Kurz nach der Geburt ist das Kind hier eingezogen. Vier, nicht enden
wollende Wochen lang haben die Eltern darauf gewartet, es gemeinsam in den Armen zu wiegen. Nur das tägliche Abpumpen der Milch ist der Mutter geblieben, und der Vater hat den Bringdienst erfüllt,
damit die Kronprinzessin genährt ist und gedeiht.
Lange liegt die Begebenheit zurück. Eine Zeit mit und doch ohne Baby:
Ganz überraschend sind die Ereignisse in jenem August 1988 eingeläutet worden. Es ist ein heißer Sommertag mit brütender Hitze. Kein Wölkchen mischt sich in das Lagunenblau des Himmels. Zusammen
mit den künftigen Großeltern ist Baden angesagt. Der kleine „Glambecksee“ in der Nähe wird aus erkoren, Abkühlung und Linderung zu schaffen.
Mitten im Wald gelegen, führt ein schmaler Weg an die Badestelle. Sie gehen einige hundert Meter mit ihrem Gepäck, tapsen über armdicke Wurzeln und alte Zapfen unter den grünen Baumkronen
entlang, bevor sie endlich angekommen sind.
Der See bedeckt ein kleines ovales Tal. Die Wellen schimmern braun, grün und blau. Einige Meter vom Ufer entfernt wühlen zwei zänkische Erpel durch Flügelschlag und klatschendes Paddeln das
warme Wasser auf. Unweit davon schauen zwei braune Enten leise schnatternd und belustigt die aufgeplusterten Männer an. Was will man erwarten: Männer eben.
Am Ufer wartet die werdende Mutter und folgt mit den Augen den Badenden. Gerade im Begriff einen Schritt ins Wasser zu gehen, schreckt sie zurück und sieht an ihren Beinen hinunter. Da läuft
körperwarmes Wasser von ihren Oberschenkeln auf die Füße zu. Aufgeregt rudert sie mit den Armen und ruft die anderen heran.
Den kürzesten Rückweg hat die künftige Großmutter. Als erste erfährt die künftige Großmutter in hastigen Worten vom Vorfall und befiehlt nun den Ehemann und den Schwiegersohn zu sich.
„Heraus, heraus, heraus. Wir müssen fahren. Das Kind kommt auf die Welt. Die Fruchtblase ist geplatzt“, sagt sie hektisch gestikulierend.
„Dieter, hol das Auto. Den weiten Weg schafft Heike nicht mehr. Nicht so!“
Leicht brummend geht Dieter den Hügel hinauf und den Weg zurück zum Auto. Schneller als seine Frau es erwartet hat, steht der „Trabant“ mit offenen Türen am vereinbarten Platz.
Ruhig packt er das Gepäck ein, setzt die Schwangere behutsam in die hintere Reihe und fährt mit Frau und Schwiegersohn zum Krankenhaus. Die Sonne steht hoch und macht die Mulden des Waldweges
schattenlos. Immer, wenn das Auto schaukelt, macht sich bei Allen Nervosität breit; selbst beschwichtigende Worte helfen da nicht viel.
Endlich endet das Gestucker. Der Motor singt heiser auf der Landstraße und brüchige Ruhe packt alle vier.
Am Ziel steigen sie aus und „entern“ die Entbindungsstation des Kreiskrankenhauses – noch mit Waldboden zwischen den Zehen.
Warten. Erwarten. Warten.
Vom Gehsteig aus schlagen sich Vater und Großvater in Spe nun schon die Nacht um die Ohren.
Sie rühren sich nicht vom Fleck. Wie gebannt starren sie die erleuchteten Fenster und horchen in die laue Nacht hinein. Sie geben sich Mühe, drehen mal das eine, mal das andere Ohr näher zum
Krankenhaus. Doch nichts ist zu hören. Kein Presslaut, kein zaghaftes Stimmchen eines neuen Erdenbürgers, obwohl die Fenster dort weit geöffnet sind.
„Entbindungen können mehrere Tage dauern“, sagt der junge Mann.
Der ältere Mann sieht ihn eine Zeit lang stumm an, runzelt verwundert die Stirn und antwortet:
„Was stehen wir hier herum. Lass uns nach Hause gehen. Schlafen wir; Heike wird das schon machen.“
Es dauert bis zum frühen Morgen. Dann ist es soweit: Ein kleiner Schrei zaubert ein Lachen auf das müde Gesicht der jungen Mutter. Von da an bereichert – noch etwas quäkend - eine neue,
hoffnungsvolle Stimme den Klang dieser Welt.
Glücklich und erschöpft hält die Frau ihr Kind in den schweißnassen Armen. Sie kann den Blick gar nicht von ihm wenden. Stolz füllt ihr Herz. Dann gibt sie dem Mädchen das erste Mal die Brust.
Suchend reißt das Baby den Mund auf und schnappt das erste Mal erbarmungslos zu. Das kleine Ding trinkt nur wenig. Dann ist es müde. Die Schwestern nehmen es der Mutter aus den Armen und bringen es
in einen anderen Raum.
‚Niemand weiß, dass ich Mama bin’, denkt die Frau auf der Pritsche, ‚niemand aus meiner Familie, nur ich und mein schönes Baby.’
„Das ist fast elf Jahre her“, sagt er zu sich.
IM SPITAL
Von der „Heinestraße“ kommend, biegt der Mann um eine Kehre – an blauen und gelben Stiefmütterchen vorbei, die in der tief stehenden Sonne leuchten. Vor dem
Krankenhaus lässt er sein Fahrzeug auf dem Ärzte-Parkplatz stehen. Sechs PKW haben hier scheinbar übernachtet.
‚Es wird mich schon keiner abschleppen.’
Er steigt aus und schließt die Autotür zu laut. Das Krachen hallt von den Hauswänden wider und eilt die „Robert-Koch-Straße“ hinab. Zielstrebig geht er auf das graue Haus mit dem porösen Putz zu,
ersteigt hastig die Stufen vor dem Eingang und geht ins Hospital hinein.
In der Pförtnerkabine wartet eine müde Schwester auf das Ende ihrer Nachtschicht. Wie bei einem alten Bahnhofsschalter ist in das große Glasfenster ein matt glänzender Aluminiumrahmen eingebaut, in
dessen Mitte eine Gaze befestigt ist.
Er wirft einen kurzen Blick durch die Scheibe.
Die Schwester sitzt an ihrem Tisch. Entblößt - ohne Tischdecke – versprüht dieser den Charme industrieller Massenmöbel der siebziger Jahre. Auf der kratzfesten Tischfläche dampft in einer gelben
Tasse köstlich duftender, türkisch gebrühter Kaffee.
‚Ja’, denkt er bei sich, ‚Kaffee wäre jetzt schön!’
Er grüßt: „ ... Morgen.“
Schon ist er an der Glasfront vorbei. Die Schwester pustet kurz in die Tasse und murmelt dann ebenfalls:
„... Morgen.“
Über die ganze Woche hat diese Frau hier den Eingang bewacht. Sie hat gewusst, dass er fast jeden Tag um diese Zeit eintritt.
In ihrer ersten Nachtschicht ist er hier stehen geblieben und hat sein Gesicht dicht an die Gaze gedrückt.
„Guten Morgen, ich möchte meine Frau auf Station drei besuchen.“
„Guten Morgen. So früh?“
„Wir haben es so abgesprochen. Sie schläft nur wenig und wartet auf mich.“
„Na, dann gehen Sie. Die Treppe hinauf und ...“
‚Ich kenne den Weg’, hat er gedacht. „Ich weiß doch“, unterbricht er sie freundlich, „ich bin die vergangene Woche schon jeden Tag hier gewesen. Danke.“
Fünf Schritte weiter erwartet ihn die steinerne Treppe, die alle Stockwerke miteinander verbindet. Ihre abgewetzten Dellen in den Stufen könnten sicher von unermüdlichen Füßen berichten, die schnell
oder langsam, springend oder staksend den Weg nach oben oder unten genommen haben.
Viele Füße sind nur nach oben gegangen; aufgebart sind sie heraus getragen worden. Dabei sind die meisten Menschen einfach nur alt gewesen und haben nach einem erfüllten Leben keine Kraft mehr für
den nächsten Atemzug aufbringen können.
Einige hat der Tod jedoch zu jung eingefangen. So Manche, die sich die Leber unheilbar kaputt gesoffen haben, oder Radfahrer, die durch Unachtsamkeit beim Abbiegen unter die Räder eines LKW gekommen
sind, oder Kinder mit Blutkrebs und Tumoren, die nicht verstehen konnten, warum die Krankheit sie auffrisst.
Im Treppengang hängt ein verglaster Setzkasten an der kahlen Wand. Darin sind einige medizinische Photos und Geräte ausgestellt. Die Bilder, durch Texte ergänzt, erklären Krankheitsbilder. Die alten
Geräte sind Beispiele für die medizinische Technik, die die Ärzte benutzen.
Eine Etage noch, dann wäre der Mann in der Entbindungsstation. Durch das offene Fenster fällt das Morgenlicht in den Gang und spiegelt sich im polierten Linoleum auf dem Fußboden. Es durchflutet den
gesamten Korridor und lässt ihn noch größer erscheinen als er ist.
Vor acht Jahren ist er unsicher und aufgeregt hier entlang gegangen:
In einer heißen Nacht Anfang April 1991 hat seine Frau nicht mehr schlafen können. Der dicke und kugelrunde Bauch hat sie in ihrer Bewegung stark eingeschränkt.
Sie rollt sich auf die Seite und stützt sich ab. Nun sitzt sie nackt und schweißnass auf der Bettkante. Sie dreht den Kopf zurück. Ihr Gatte schläft.
‚Die Welt könnte einstürzen’, denkt sie, ‚er schläft.’
Ein Nasenpfeifen mischt sich in das Grunzen des Mannes; ruhig atmet er ein und aus. Wie ein Kind liegt er da. Nichts scheint ihn zu stören.
‚Wenigstens einer von uns beiden hat es bequem!’ beneidet sie ihn.
Sie greift mit einer Hand nach hinten, stützt sich auf seine Hüfte und rüttelt an ihm. Schlaftrunken vergräbt er die Nase im Kissen.
„Mario. Mario, wach auf.“
Er rührt sich nicht und hört auch die Worte nicht, sondern ist mit einem Traum der Realität entrückt.
Sie spricht lauter, energischer und mit etwas Wut in der Stimme: „Mario! Wach endlich auf!“
Sie rüttelt ihn derb. Irgendetwas muss doch wirken. Schläfrig und ahnungslos dreht der Mann ihr den Kopf zu. Denn er ist zu faul, den ganzen Körper in ihre Richtung zu wenden. Seine Augen formt
er nur zu Schlitzen. Dann fragt er leise:
„Ist dir die Fruchtblase geplatzt?“
„Nein, das nicht.“
„Warum weckst du mich dann, es ist Nacht.“
„Ich liege seit einer Stunde wach. Ich glaube, ich habe Wehen. Ich schau die ganze Zeit wie gebannt auf den Wecker.“
„Wie groß ist denn der Abstand?“
„Zwanzig Minuten“, antwortet sie und sieht ihn verunsichert an.
Sie beschließen, zum Krankenhaus zu fahren. Der Abstand der Wehen hat sich verkürzt. Der Ehemann nimmt die gepackte Reisetasche aus dem Kleiderschrank und stellt sie auf den Korridor.
Seine Frau verschwindet im Bad. Sie setzt sich auf den kalten Emaillerand der Badewanne und stützt so den Babybauch durch ihre Oberschenkel ab. Sie putzt sich die Zähne und seift sich lauwarm ab.
Das Wasser erfrischt sie nicht wirklich. Grob abgetrocknet tritt sie in den Flur, geht watschelnd - die Hände in den Rücken gestützt - ins Schlafzimmer und kleidet sich an.
Ihr Mann hat in der Zwischenzeit zum ungezählten Mal den Inhalt der Tasche auf seine Vollständigkeit kontrolliert und zieht den Reißverschluss zu. Er ist fertig angezogen. Waschen fällt für ihn
wohl heute Morgen aus.
Dann geht er in das Kinderzimmer, hebt vorsichtig die schlafende Anne aus ihrem Bett und wickelt sie in die gelbe Baumwolldecke mit den großen weißen Löwen ein. Das Gesicht des Mädchens ist rund
und seine Wangen glühen rot. Es atmet ruhig mit leicht geöffnetem Mund. Etwas Speichel bahnt sich im Schneckentempo seinen Weg über das Kinn.
Zu dritt verlassen sie die Wohnung.
Im Treppenhaus fragt sie: „Fehlt auch nichts in der Tasche?“
„Nein, es dürfte Alles drinnen sein. – Hast du die Wohnungsschlüssel der Eltern?“
Aus ihrem grünen, knielangen und sommerlich dünnen Mantel zieht sie ein Schlüsselbund und hält es ihm genau vor Nase: „Zufrieden?“
Wortlos gehen sie hintereinander die Stufen hinunter. Nur das ruhige Atmen des Kindes, das sich fest ankuschelt, ist zu hören.
Mit dem Auto fahren die drei zu den Großeltern – die Straße entlang, am Stadtbahnhof vorbei und über die leere Spiegelkreuzung bis ins Zentrum der noch schlafenden Stadt.
Im Wohnblock der Großeltern in der „Prenzlauer Allee“ betreten sie sehr leise deren Wohnung. Die Schwangere weckt flüsternd ihre Mutter. Die beiden Frauen besprechen alles Notwendige. Die zwei
Männer sind nur als Zuhörer geduldet.
„Leg mir Anne in den Arm“, sagt die Oma dem Schwiegersohn. „Sie wird es zwischen uns beiden ganz gemütlich haben. Wir kümmern uns schon um sie. Macht euch mal keine Sorgen.“
Sie betrachtet das schlafende Kind und streichelt ihr die noch immer glutroten Wangen.
„Nicht wahr, mein Schatz, Oma und Opa passen auf dich auf. Hier bist du in Sicherheit.“
Tochter und Schwiegersohn verabschieden sich von den beiden und gehen danach ins Krankenhaus.
Dort informiert die Schwester die Dienst habende Ärztin. Eine Hebamme nimmt sich der Schwangeren an. Dem Mann bleibt nur das Warten auf dem Gang. Nervös tippelt er hin und her. Er versucht, sich
durch die Bilder an den Wänden abzulenken. Vergebens, denn seine Gedanken sind ganz auf die Geburt fixiert.
Immer wieder schaut er auf seine Uhr, bleibt an den Fenstern stehen und blickt hinaus. Aber da draußen ist nichts Wichtiges, das ihn ablenken könnte.
‚Die Zeit fließt nicht, sie verrinnt tröpfchenweise’, denkt er.
Eine rundliche Schwester mit schwarzen Locken kommt auf ihn zu und gibt Entwarnung: „Sind Sie der Ehemann?“
Er nickt stumm. Warum er jetzt kein Wort sprechen kann, ist ihm schleierhaft.
„Gehen Sie nach Hause. Ihre Frau ist bei uns gut aufgehoben. Sie hat noch Zeit. Der Muttermund ist noch nicht geweitet. Das dauert noch Stunden. Frühestens Mittag. Gehen Sie mal nach
Hause.“
Sie hakt ihn unter und geht mit ihm einige Schritte in Richtung Stationsausgang. Er weiß nicht mehr, wann sie sich bei ihm ausgeklinkt hat. Jedenfalls hat er kurz darauf im Auto gesessen und ist
losgefahren.
Gegen dreizehn Uhr klingelt das Telefon. Er hört die fröhliche, fast singende Stimme seiner Frau: „Mario, du kannst kommen.“
„Ist es schon da?“ fragt er verwirrt zurück.
„Nein, aber ich komme bald in den Kreißsaal. Du wolltest doch dabei sein. – Ich habe die Erlaubnis: Du darfst.“
Sie lauscht in den Hörer. Nichts. Schweigen. Stille.
„Mario?!“ Sie vernimmt ein tiefes nasales Ausatmen.
„Ich bin gleich da. Fünf Minuten. Ich beeile mich! Bis gleich“, sagt er und legt ohne weitere Worte auf.
Sie begegnen sich auf dem Flur vor dem Entbindungssaal. Er umarmt sie; er muss dabei den Bauch einziehen und den Po nach hinten strecken. Sie unterhalten sich noch eine Weile, reden belangloses
Zeug, machen sich gegenseitig Mut und lachen viel. Die Geschichte zu Annes Geburt fällt ihnen ein. Doch heute ist alles anders!
Gemeinsam mit der Hebamme gehen sie in den Kreißsaal. Seine Frau legt sich auf die mit Kunstleder bespannte Pritsche und nimmt die Entbindungsposition ein. Die Wehen kommen nun aller drei
Minuten.
In abgehackten Sätzen beschreiben die anwesenden Mediziner den Iststand. Ab und zu zwischen den Beinen aufschauend, gibt die Hebamme die Kommandos.
Der Mann sitz bei seiner Frau, greift in ihre Hand, die sich beim Pressen verkrampft, wischt ihr den Schweiß aus dem prustenden Gesicht, muntert sie auf und erzählt so viel Unsinn, dass alle
herzhaft lachen müssen.
„Schön pressen“, klingt es aus den Katakomben unter den Oberschenkeln hervor. „Kopf auf die Brust und pressen. Pressen Sie. Prima. – Na, ein Mal noch. Aber holen Sie erst einmal tief Luft, und
tanken Sie auf.“
Der Mann schaut seine abgekämpfte Frau aufmunternd an.
„Und Sie, junger Mann, Sie halten ihr nachher den Kopf, wenn sie presst. Damit Sie auch etwas zu tun haben. – Und pressen. Pressen!“
Kraftlos, ermüdet und schweißgebadet wirft sich die Frau in das Kissen zurück. Sekunden vergehen. Dann hören die frischen Eltern die piepsige Stimme eines Mädchens quäken.
So gibt es an diesem Nachmittag einen Erdenbürger mehr auf dieser Welt. Die an Zukunft gewonnen hat, weil ein neuer Geist sich dazu gesellt hat.
Der Mann geht über die Treppe noch eine Etage höher und wendet sich nach links der Station zu, auf der seine ausgemergelte Frau medizinisch versorgt wird.
Die gläsernen Flügel der Stationstüren sind geschlossen. Er öffnet sie leise. Der lange, eintönige Flur ist mit gelb-grünem Linoleum bedeckt. An der linken Seite reihen sich die Türen der
Patientenzimmer aneinander. Rechts hingegen wechseln sich Funktionsräume mit ihnen ab.
Da ist die kleine Teeküche, in der das seltene Geklirr der Tassen und Löffel die erdrückende Stummheit zerreißt. Oder der durch Vorhänge abgedunkelte „Schwesternraum“ mit seiner muffigen, Rauch
durchsetzten Luft, der dem Personal trügerische Entspannung feilbietet. Sie alle gehören zu dieser Station und wirken wie eine Familie.
Ganz hinten, am Ende des Ganges, befindet sich das kleine Büro des Stationsarztes, das mit alten, dunklen Möbeln eingerichtet ist. Eine Bücherwand, ein hölzerner Schreibtisch und zwei Stühle finden
Platz darin. Karger Bilderschmuck versucht, die Wände zu verschönern. Zwei immergrüne Pflanzen bemühen sich vergeblich, das Zimmer freundlicher wirken zu lassen.
Als der Mann auf dieses Zimmer blickt, erinnert er sich an die schaurigen Vorfälle des gestrigen Tages:
Es ist später Abend. Vorabend. Der Vorabend. Den niemand dafür hält, weil niemand die Ereignisse vorhersieht.
Es ist 21 Uhr, und das Schlagen der Kirchuhr ist gerade verstummt. Die Luft ist nicht mehr ganz so heiß wie am frühen Abend. Aber sie ist nicht in der Lage, den Menschen eine lindernde Abkühlung
zu sein. In dem großen Einzelzimmer liegt seine Frau Heike und kämpft mit der Hitze. Die Bettlegrige zieht die grauen Arme an und stützt sich mühevoll auf die knochigen Ellenbogen.
Mit der stärksten Kraft, die sie ihrer Stimme geben kann, sagt sie: „Ich will einen anderen Arzt haben. Viel leicht kann er mir helfen. Eine zweite Meinung.“ Ihre Stimme klingt dünn und
wimmernd.
„Mario, mach, dass es geht. Hol mich hier heraus. Ich möchte Carolin und Anne noch einmal sehen.“
Sie fällt zurück auf das Lager. Weinend und mit ersticktem Ton sagt sie: „Ich will hier nicht sterben. Bring mich nach Berlin. Oder bring mich nach Hause. Bitte, Mario.“
Die großen, wachen Augen in dem eingefallenen Gesicht mit den spitzen Wangenknochen blicken erst ihren Ehemann, dann den eigenen Vater an. Die unheilbar kranke Frau bettelt: „Bitte Papa,
bitte.“
Der Ehemann setzt sich vorsichtig auf den Rand des Bettes. Er streichelt seiner Frau den Unterarm und greift ihre Hand.
„Ich frage, was wir tun können. Wir finden einen Weg. Bestimmt“, versucht er sie zu beruhigen.
Stille und betretenes Schweigen erfüllen den sterilen Raum. Minuten lang. Nur der Ventilator surrt sein monotones Lied und spendet eine etwas erfrischende Brise. Dann schwenkt die Tür auf und die
Dienst habende Ärztin tritt ein. Sie ist kleiner als alle anderen in diesem Zimmer und viel leicht so alt wie der Ehemann.
Aufgelöst und voller Angst schaut die Patientin zuerst die Hereinkommende, danach ihren Mann an.
„Mach, dass es geht. Ich will nach Hause!“
Schluchzend dreht sie sich in das aufgewühlte, knautschige Kissen. Der Mann wendet sich der Ärztin zu und schaut sie erwartungsvoll an. Er weiß, seine Frau ist schwach. Es wird sehr schwierig
werden, sie umzubetten oder in den Rollstuhl zu setzen. Mit seinen Augen fragt er die Medizinerin: Ob es gelingt?
Gefühllose Worte vereisen die Luft: „Sie werden das Krankenhaus nicht wieder verlassen.“
Mit diesem taktlosen Satz hat sie die Männer schockiert, betroffen gemacht und mit Zorn erfüllt. Und der kranken, dürren Frau sämtliche Zuversicht genommen.
‚Das ist die Wahrheit’, denkt der Mann, ‚die nackte, kalte Wahrheit. Jeder hier im Raum kennt sie, aber hat es nie gewagt, sie auszusprechen. Schwiegervater nicht, Heike nicht, ich
nicht.’
Wut und Verzweifelung steigen in ihm auf – und Machtlosigkeit. Natürlich schätzt er grundsätzlich die Wahrheit. Aber eine Wahrheit - dessen ist er ganz sicher - die alles Erhoffte und Gewünschte,
alle Träume und Strohhalme zunichte macht, eine solche Wahrheit spricht man lieber nicht aus. Das weiß er zu genau.
Nur ein Mal ist ihm dieses Missgeschick passiert, und es tut ihm noch immer leid.
Wenig später verlässt er unter einem Vorwand das Krankenzimmer. Bei dem folgenden Gespräch unter vier Augen zwingt er sich im Dienstraum zur Ruhe, obwohl seine Wut schäumt. Er möchte diese kalte,
herzlose Frau bestrafen. Doch er weiß nicht wie. Seine schweißnassen, roten Hände umklammern die Tischplatte. Vor ihr stehend, redet er auf die Sitzende hinter dem Schreibtisch ein. Vorsichtig und
überlegt formuliert er seine Sätze. Die Stimme ist laut. Auch wenn er nicht schreit, ist sie doch so laut, dass die Schwester auf dem Korridor inne hält und seinen Worten zuhört.
„Wie können Sie es wagen, so kalt zu sein? Wissen Sie überhaupt, was Sie angerichtet haben? Meine Frau liegt da. Sie ist bei vollem Verstand. Meinen Sie nicht, dass sie schon hoffnungslos genug
ist? Müssen Sie ihr den letzten Funken Hoffnung nehmen, in dem Sie so Etwas tun? Ich will, dass sie das Krankenhaus verlässt. Entweder kommt sie nach Hause oder Sie bringen sie nach Berlin.
Unternehmen Sie was, und leisten Sie sich das nie wieder! Sonst passiert was! Da können Sie sicher sein!“
Plötzlich verstummt er. Die Ärztin sieht ihn von unten aufblickend an. Ihr Gesicht ist verhärtet, die Lippen liegen wie zusammen gepresst regungslos aufeinander. Ihre Augen verraten etwas
Unsicherheit. Jedoch verschwindet diese nach kurzer Zeit und weicht einem Aufbegehren. Langsam steht die Ärztin auf und antwortet mit fester Stimme:
„Wenn Sie es wünschen, werde ich mich bei Ihrer Frau entschuldigen. – Sie wissen, dass sie nirgends hin kann. Sie ist zu zerbrechlich, sie verliert Blut. Sie würde niemals den Transport
überstehen! Egal, ob nach Berlin oder zu Ihnen nach Hause.“
„Geben Sie ihr Mut, verdammt noch mal! Sie braucht etwas, woran sie glauben darf, worauf sie hoffen kann. Organisieren Sie diesen Transport und sagen sie ihr, dass Sie es ermöglichen werden.
Machen Sie diesen absurden Fehler einfach wieder gut!“
Demonstrativ reißt er die Tür des Dienstzimmers auf und bleibt so lange stehen, bis die Ärztin vor ihm den Raum verlässt. Beide gehen gemeinsam zum Zimmer der Todkranken. Sie betritt den Raum, er
bleibt auf dem Flur. Er hört genau hin. So genau wie die Schwester, die den ganzen Vorgang beobachtet hat und noch immer damit beschäftigt ist, die durchsichtigen Medizinbecherchen auf dem Tablett
auszurichten.
Das ist nur eine kurze Nacht her, die wahrscheinlich Keinem der Anwesenden erholsamen Schlaf beschert hat.
NAH BEI IHR
Der Mann macht leise die Tür einen Spalt auf, damit er hindurchschlüpfen kann. Mit der Türklinke in der Hand steht er starr und
geräuschlos am Eingang und lässt seinen Blick wandern:
Im stillen, sachlichen Raum steht das Bett quer. Das Piepen des Gerätes, das den Herzschlag anzeigt, ist für die Nacht abgestellt worden. Nur das grüne Lämpchen blinkt, und die Kurve zittert
gleichmäßig aufgeregt über den Monitor.
Daneben ragt ein vierarmiger „Galgen“ in die Höhe. Ein fast leerer Beutel Blutplasma hängt ausgesaugt an einem der krummen Arme. Ein durchsichtiger Schlauch endet in der Kanüle am Unterarm der
Schlafenden. Einige wenige Farbreste zeugen vom ehemaligen Inhalt. An einer anderen Kanüle befindet sich die Nährinfusion, die schon seit Tagen angeschlossen ist, weil selbst flüssige Nahrung für die
zerstörten Schleimhäute des Mundes zu viel ist. Sehr langsam bilden sich in dem Röhrchen die nachdrückenden Wassertropfen. Stetig fällt einer ab, um für die folgenden Platz zu schaffen.
Hinter dem Ständer mit den Infusionen befindet sich der betthohe Nachtschrank. Eine mit Wasser gefüllte Tasse, fast verwelkte Blumen und ein kleiner Wecker üben sich darin, so wenig wie möglich
aufzufallen.
Die weißen Wände leuchten im frühen Tageslicht und versprühen den merkwürdigen Charme echter, unverfälschter Krankenhausatmosphäre.
Durch das weit geöffnete Fenster gelangt kühlere Morgenluft ins Zimmer. Auch der Gesang der Vögel dringt in den Raum und verbreitet ein Wenig Leichtigkeit und Freude auf den Tag.
Der Mann schließt die Tür geräuschlos hinter sich. Sein Blick fällt auf den mit Kunstleder bespannten Stuhl. Er ignoriert ihn. Mit kurzen, leisen Schritten geht er am Bett vorbei auf das Fenster zu.
Er schaut auf die schönen Bäume, auf die Flächen und Häuser, die man von hier aus sehen kann. Eine Weile verharrt er so, als wäre diese Aussicht sein Ziel des ganzen Weges gewesen. Regungslos, ohne
den Kopf oder auch nur die Augen zu bewegen starrt er hinaus und lässt sich den kaum merklichen Wind ins Gesicht wehen.
Er dreht sich um, blickt flüchtig zum Bett hinüber und setzt sich dann auf die gusseisernen, beige gestrichenen Heizungselemente. Kälte dringt an seinen Po und macht ihn fröstelnd. Langsam greift der
kalte Schauer auf seine Arme und Beine.
Oft hat er in den vergangenen Besuchsstunden auf dem Heizkörper gesessen; es ist für ihn eine Gewohnheit geworden, die er auch später gepflegt hat, da es bequem und im Winter sogar warm gewesen
ist.
Der eigentliche Grund, später dieses Verhalten zu kultivieren, ist schon immer die Erinnerung an diese Zeiten gewesen.
Er sieht den knochigen Körper aus der Ferne an. In seine Gedanken mischt sich die harmlose Szene des Anfangs dieser bösartigen Krankheit, die seine Frau aus dem Leben reißt. Sie nimmt der Familie den
wichtigsten Teil und zerreißt ihm als Ehemann und natürlich erst recht den Kindern den Lebensfaden.
Der Mann hat mehrfach versucht, die Rissstelle zu knoten. Aber er war zu ungeschickt dafür.
Zu jenen Tagen hat sich der Spätsommer wacker geschlagen. Die sonnenheißen Tage sind hell gewesen und nur unmerklich kürzer geworden, und die warmen Nächte haben sich in klaren Sternenhimmel
gehüllt.
Mit den Kollegen macht sich die Frau zum Bowling auf, um Spaß zu haben, zu schnattern, zu witzeln, die Seele baumeln zu lassen, um vergnügt zu sein. Irgendwann macht sich bei ihr ein dauerhafter
Schmerz bemerkbar, der ihr aber keine großen Sorgen bereitet. So geht sie nach Hause. Nichts ahnend kommt ihr ihr Mann mit der jüngsten Tochter auf dem Arm entgegen. Verwundert über die frühe Ankunft
betrachtet er sie. Noch bevor er etwas sagen kann, piepst das Mädchen: „Mama, tut dir etwas weh?“
Die Frau fängt sich und lächelt das Kind an.
„Nein, Carolin, ich habe nichts.“
Doch dem Blick des Kindes kann sie nicht standhalten. Sie wendet sich ab und beginnt im Stehen an den Bändern eines Schuhs zu nesteln. Der Mann setzt das Kind ab, geht auf seine Liebe zu und
umarmt sie vorsichtig von hinten.
„Nicht! Bitte!“
Erschrocken weicht er zurück: „Was hast du?“
Unter Tränen wendet sie sich ihm zu: „Mario, ich habe solche Schmerzen, und ich weiß nicht, was es ist.“
„Das sind wahrscheinlich nur die üblichen Rückenschmerzen vom Bowlen“, meint er gönnerhaft und allwissend.
Sie sehen einander an, er von sich überzeugt und sie unsicher, mit fragendem Blick und noch immer unter Tränen, so als ob eine Ahnung in ihr aufsteigt. Eine Ahnung, die Unheil in ihrem Schatten
mit sich führt und eine ungewisse, sorgenvolle Zukunft bringt.
Sie sagt: „Ich habe die Schmerzen im Bauch, nicht auf dem Rücken. Hier“, und sie rahmt mit einer kreisenden Bewegung ihrer Hand die Stelle ein.
„Na, dann musst du zum Arzt. Fahr doch gleich hin.“
Verständnislos schaut sie ihm in die Augen. "Ich fahre nicht. Ich kann weder sitzen, noch stehen. Ich habe es auch mit Liegen probiert. Es tut immer so stechend weh.“
Sie fängt erneut an zu weinen.
Er geht auf sie zu, hebt die Arme, um sie zärtlich an sich zu drücken und zu beruhigen. Sie wehrt jedoch ab, schiebt ihn vorsichtig zurück und sagt: „Bitte, tu’ s nicht, bitte!“
Erst langsam begreift er, dass er nicht trösten oder helfen kann. Das Einzige, das an diesem Abend Linderung bringen könnte, unternimmt er. Er lässt sie wortlos im Windfang stehen und beginnt, im
Wohnzimmer mit lautem Rascheln die Zeitung zu durchstöbern.
„Notarzt, Notarzt ... hier“, hört man ihn brummeln. „Heike, Frau Doktor hat Bereitschaft; ich rufe dort gleich an.“
Er führt das notwendige Telefonat.
Etwas mehr als eine Viertel Stunde später betritt die Doktorin sein Haus und kümmert sich um die jetzt nicht mehr weinende Frau.
Die Ärztin tastet die betroffene Region am Körper ab und kann mit dem Wenigen, das sie mit sich führt, nur eine vage Diagnose treffen.
„Viel leicht ist es eine Zyste, die ausstrahlt. Genaueres kann ich erst morgen sagen, wenn ich Sie besser untersuchen kann. Ein Ultraschallbild wäre gut.
Kommen Sie doch morgen zu mir in die Sprechstunde, gleich am Vormittag. Dann wissen wir mehr. Jetzt gebe ich ihnen etwas gegen die Schmerzen. Das dürfte über Nacht reichen. Ich schreibe Sie
krank.“
Sie holt das Formular aus dem Koffer und füllt es aus. Nach einem eiligen Abschied verlässt sie die Wohnung. Der Mann schließt hinter ihr die Tür. Er schaut danach nur flüchtig und hilflos in der
Stube vorbei und wendet sich lieber den Kindern zu. Es scheint ihm das einzig Vernünftige zu sein, das er jetzt tun kann. Seine Frau liegt einsam auf der Couch und wartet auf das Wirken des
Medikamentes.
Am nächsten Morgen überschlagen sich die Ereignisse. Aus der gemutmaßten Zyste ist durch ausgiebiges Tasten und Fühlen, durch Ultraschall- und Röntgenbildauswertung schnell mehr geworden. Der
wuchernde Krebs ist erkannt und droht mit dem Grabkreuz. Die Aufregung und Fassungslosigkeit, die Hilflosigkeit und die Verzweiflung wirren die Frau und machen sie ängstlich und mutlos.
„Ich will nicht sterben, Mario! Was habe ich verbrochen? Warum ich? Ich rauche nicht, warum ich? Ich habe nichts getan. Warum nur?“
Tränenübergossen sinkt sie in sich zusammen und sucht bei ihrem Mann Trost. Doch der ist stumm. Das erste Mal in seinem Leben fehlen ihm die Worte. Verloren sitzt er da, dicht bei ihr, kein Arm,
keine Hand greift nach ihr und gibt ihr Halt. Er ringt um Worte. Nicht eines davon scheint ihm das richtige zu sein. Er öffnet den Mund, aber keiner seiner Gedanken will über seine Lippen
kommen.
Diese Stummheit, die permanente Unsicherheit zu versagen, das Falsche zu tun, hat hier ihren Anfang und ihre Ursache. In diesen Sekunden hat er begonnen, von ihr Abschied zu nehmen, obwohl in den
nächsten Monaten noch so manches Mal Hoffnung auflodern sollte. Ein Feuer, dessen Flammen immer geringer und flackernder werden sollten, dessen Kraft mehr und mehr nachlässt und dessen Aschereste
jegliche Zuversicht unter sich begraben würden.
Über diese Zeit hinweg ist aus der Doktorin ein wachsamer und kompetenter Begleiter geworden. Stets anwesend in unüberschaubarer Not hat das Verhältnis zwischen den Dreien an Achtung und
Freundschaft gewonnen.
Besonders nah sind sich die Frauen gekommenen. So hat sich aus dem distanzierten „Sie“ ein vertrauendes „Du“ entwickelt, und aus Frau Doktor ist Petra geworden. Petra hat viel Engagement
investiert, und Heike, die Patientin, hat es gern angenommen. Petra ist Heikes Zuflucht gewesen, eine uneinnehmbare Burg, die keiner bezwingen konnte. Sie ist einfach besser gewesen, als es der Mann
je hätte sein können.
Denn dieser hat nichts mehr zu geben verstanden, keinen aufmunternden Rat, keine hoffnungsvolle Botschaft. Nicht durch Worte hat er die Zweifel verbreitet, auch nicht durch Taten. Er hat
vorsichtig agiert und ist stets bedacht gewesen, Allen Alles recht zu machen.
Nur seine Augen haben an Ausstrahlung und Glanz verloren. Stück für Stück ist das Leuchten verschwunden. Sein lautes, fröhliches und glucksendes Lachen hat es nicht mehr gegeben und zu selten hat
sich ein Lächeln über die Lippen gewagt.
Manchmal hat er sogar bemerkt, dass er an seiner geschundenen Frau vorbei sieht und nicht in der Lage ist, dem Kummer die Stirn zu bieten. Dabei hat er sich selbst aufgegeben und ist verloren
gegangen; noch heute sucht er sein früheres Ich.
Vom Fensterplatz aus wagt der Mann einen bewussteren Blick auf die Schlafende.
Das Bett ist mit frischer Wäsche bezogen. Das Laken ist straff gespannt und sieht strahlend weiß aus. Der Bettbezug ist aus gelber Baumwolle und bedeckt den dürren Körper. Am Kissen ragt einen Zipfel
in die Höhe.
Gestern haben die Schwestern das alles komplett wechseln müssen. Das Blut, das Heike verabreicht worden ist, hat sich seinen Weg über den perforierten Darm gebahnt. Ohne es zu spüren, hat sie es
nicht im Körper halten können. Es ist einfach herausgelaufen, so als wolle es – böswillig – die angestrebte Wirkung verweigern. Hilflos, niedergeschlagen und verstört hat sie auf den großen
rotbraunen Fleck zwischen ihren staksigen Beinen geschaut.
Verzweifelt hat sie ausgesprochen, was alle Anwesenden gedacht haben: „So kann ich ja nicht genesen!“
Danach hat sie ihr Gesicht weit im Kissen verborgen und Keinen mehr angesehen. Nur ihr Schluchzen haben alle gehört.
Entspannt, mit unverkrampftem Gesicht, liegt sie scheinbar zufrieden da, den Kopf zur Tür gewandt. Der freie rechte Arm ruht auf der Bettdecke. Er sieht aus, als bestünde er nur noch aus mit Haut
bespannten Knochen, so sehr sind die Muskeln geschwunden. Der Ellenbogen weist spitz nach außen und an der Hand zeichnen sich die Gelenkknochen mit scharfer Kontur ab. Auch die herausstehenden
rotblauen Adern auf dem Handrücken sind deutlich durch die dünne Haut erkennbar.
Jedoch täuscht diese Entspanntheit. Wer genau hinsieht, merkt, wie sich immerzu die Finger kaum sichtbar unrhythmisch bewegen. Ein Zucken durchfährt sie, so als ob kleine Blitze in sie hineindrängen.
Dann schlagen sie aus wie gehemmte Uhrenzeiger, die nicht von der Stelle kommen.
Am unteren Fußende des Bettes ist die Decke zurückgeschlagen. Ein hageres Bein streckt sich von der Wade bis zum Fuß und versucht, dem Körper Abkühlung zu geben.
‚Du machst es also immer noch’, denkt er. So lange er sie kennt, ist das ihre Art gewesen, das Hitzeprickeln loszuwerden. Wenn die Haut geglüht und gedampft hat und das Bett brütend heiß gewesen ist,
dann hat ein Fuß mindestens herauslugen müssen.
Er wirft einen Blick auf die Armbanduhr. Ein Geschenk seiner Frau vor gut einem Jahr zu seinem Geburtstag. Ein schönes
Stück.
Damals hat sie ihn geküsst und Tränen sind über ihre vollen Wangen gerannt. Sie hat ihren Kopf an seinen Hals gelegt, die Tränen daran abgewischt und es vermieden, ihn anzusehen: „Für noch viele
gemeinsame Stunden.“
Er hat sie ganz fest an sich gedrückt und mit erstickter Stimme geantwortet: „Nicht Stunden, Heike, Jahre. Hab´ keine Angst.“
Nur ist die Angst beiden ein ständiger Begleiter geblieben. Dabei sind die vielen erträumten und ersehnten gemeinsamen Jahre auf weniger als zwanzig Monate geschrumpft.
Eine Viertel Stunde ist seit seinem Kommen vergangen. Still hat er verharrt hier auf dem Heizkörper. Vorsichtig begibt er sich zum Stuhl.
Doch seine Frau hat jetzt einen leichten Schlaf. Als er sich setzt, streckt sie ihm den freien Arm entgegen. Sie schlägt die großen Augen auf, die tief in den Höhlen über den eingefallenen Wangen
sitzen, und schaut ihn an.
Behutsam greift er mit beiden Händen ihre Finger und streichelt zärtlich den Handrücken. Die Adern darauf scheinen sich in der Nähe noch höher abzuheben, als es die Sicht vom Fenster aus vermuten
lässt.
Er rückt näher an sie heran und küsst ihr die Stirn. Wie ihr Mund schmeckt, weiß er gar nicht mehr. Denn seit ungezählten Wochen sind ihre Mundschleimhäute durch die Medikation zerstört, und jeder
Druck auf die aufgesprungenen Lippen verursacht unnötige Pein.
„Guten Morgen, mein Schatz“, sagt er mit weicher, gedämpfter Stimme. Er schaut ihr in die Augen und versucht, dabei zu lächeln.
Ein schwacher Glanz leuchtet in ihren Augen: „Du bist ja da ...“, sagt sie matt, aber freudig.
„Ich hatte es doch versprochen.“
„Schlafen die Kinder?“
„Ich bin leise gewesen. Als ich ging, war kein Ton zu hören. Bestimmt. Ich bin mir sicher. – Hast du gut geschlafen?“
„Nicht so gut. Die Schmerzen ... Die Nachtschwester hat mir um drei ein neues Kortison-Pflaster auf den Rücken geklebt. Danach konnte ich ein Wenig schlafen. Aber erst ab vier.“
„Kann ich dir etwas Gutes tun? Das Kissen aufschlagen, oder so?“
„Das Kissen ist gut so. Aber trinken ... die Lippen sind so trocken.“
„Wasser?“
„Hm, Wasser.“
Er reicht ihr die Tasse an den Mund, und sie trinkt.
„Möchtest du eine Banane haben?“
„Nein, mein Mund, du weißt doch.“
"Ich dachte nur, weil keine Obstsäure darin ist.“
„Aber die Süße...“
„Entschuldige, ich habe nicht daran gedacht.“
„Du denkst an viele Sachen nicht, Mario.“
„Ich bin nicht du. Du hast immer alles im Griff.“
„Du sollst gar nicht ich sein. Dann wärst du hier.“
Und den Tränen nahe fügt sie hinzu: „Das hier hab` ich nicht im Griff!“
„Das wollte ich so nicht sagen, Heike. Glaube mir.“
Er möchte sich entschuldigen und legt seine Hand auf die ihre. Doch sie möchte seine Hand nicht haben.
Lange sagen sie nichts. Dann erzählt er von der Mofafahrerin, die so früh am Morgen im Rock unterwegs gewesen ist. Nur um das Thema zu wechseln. Doch wen interessiert diese schon wirklich?
Zweimal noch trinkt seine Frau. Jedes Mal sinkt sie langsam in das Kissen zurück, lässt vorsichtig die Zunge über die Lippen gleiten und schließt für einige Minuten die Augen.
‚Müde siehst du aus, mein Engel, sehr müde’, denkt er, als er sie so ansieht.
Sie lässt die Lider geschlossen und schläft. Er sitzt reglos daneben und versucht, keine Geräusche zumachen, damit sie den Schlaf der Nacht nachholen kann.
Er denkt, sie hört ihn nicht.
„Du bist so friedlich“, spricht er für sich.
Aber sie antwortet: „Ich muss meinen Frieden machen, Mario. Ich kann nicht mehr kämpfen ... Ich habe zu lange ... nur gekämpft.“
Er erwidert nichts. Und sie versinkt in einen leichten Schlaf, der nur wenig Erholung bringt.
Jetzt schläft sie wirklich.
Er sitzt auf seinem Stuhl und betrachtet sie wie ein Bild oder eine Skulptur. Sie sieht sehr dünn aus. Er versucht, ihr Gewicht abzuschätzen. Wahrscheinlich wiegt sie keine vierzig Kilogramm mehr –
so viel wie ein zehn- oder elfjähriges Kind.
‚So viel wie Anne’, erschreckt er sich, ‚oder weniger! Arme Heike.’
Nach knapp einer halben Stunde muss sie husten. Schnell erwacht sie und beruhigt den Hustenreiz mit einem Schluck Wasser. Als das vorbei ist, bemüht er sich, sie aufzumuntern.
„Wir haben in drei Tagen unseren Hochzeitstag“, versucht er, die danieder Liegende von ihren Sorgen und Schmerzen abzulenken.
„Ich weiß nicht, ob ich da noch bin.“ Sie greift langsam und suchend mit ihren spindeldürren Fingern seine Hand. Er spürt zu genau, dass sie bei ihm Halt sucht. Er ergreift ihre Hand. Die Adern auf
dem Handrücken zeichnen sich deutlich ab. Die Haut sieht alt und vergilbt aus. Sie wirkt papiernd und zerbrechlich. Sich haltend schweigen sie.
Dann sehen sie sich ins Gesicht und lächeln sich an.
„Erinnerst du dich an unsere Hochzeit?“ fragt sie.
„Das war mein Glückstag“, antwortet er.
„Meiner auch. Alles war so schön. Kannst du dich noch an die fremde Frau erinnern?“
„Hm, die saß gegenüber dem Eingang ganz außen. Sie hatte dunkle Locken und einen hellen Hosenanzug an. Sie kam als Letzte und ging vor allen Anderen aus dem Trausaal.“
„Die war keine von uns.“
„Von uns auch nicht. Die war bestimmt von der Staatssicherheit.“
‚Ja’, denkt er, ‚diese Frau hat damals einfach bei den Gästen Platz genommen. So unauffällig wie sie kam, ging sie auch wieder. Vorher hatte ich sie noch nie gesehen. Auch danach bin ich ihr nie
wieder begegnet.
Da wird man ja regelrecht verführt zu denken, dass die Frau im Auftrag der Stasi im Raum gesessen hat. Schließlich ist mein Vater in der DDR als politischer Häftling im Gefängnis gewesen. Dagegen hat
Schwiegervater im Auftrag des MdI als Vermesser gearbeitet.’
„Weißt du noch ... das ‚Taxi’.“
„Da hatte Oma eine tolle Überraschung mit der Kutsche und den Pferden parat. Man, war das schön. Du in deinem weißen Kleid warst die schönste Braut.“
„Du warst in deinem Anzug dafür ein Hänfling. So dünn.“
„Ich habe zu gelegt, dank deiner Kochkunst.“
„Dafür wiege ich jetzt weniger als du zur Hochzeit.“
„Denke doch bitte nicht daran.“'
„Ich muss aber daran denken ... Schau mich an. Nur noch Haut und Knochen.“ Sie greift sich in den Oberarm und fügt hinzu: „Da ist kein Fleisch mehr drunter. Hier, schau her, nur noch labbrige
Haut.“
Sie wendet sich ab von ihm und weint vor sich hin. Dann hört das Weinen auf und erschöpft schläft sie einige Minuten. Auch ihr Mann döst. Mit dem Kopf auf der Brust sitzt er auf dem Stuhl.
Etwas berührt ihn und er macht die Augen auf. Seine Frau greift nach seiner Schulter und zieht ihn zu sich heran. Sie flüstert. Er hält ihr das Ohr vor den Mund.
„Du musst mir etwas versprechen, Mario.“
„Was soll ich dir denn versprechen?“
„Versprich, bitte!“
„Ich verspreche dir alles, was du willst. Versprochen.“
Sie mustert ihn.
‚Ahnt er nicht, was ich sagen will? Er ist so unbefangen. Dabei zeugt diese Bitte um das Wissen meines Endes. Und er tut so unbekümmert’, denkt sie.
„Verlass meine Kinder nicht. Sorge dich um sie. Versprich es!“ Sie dreht seinen Kopf zu sich und blickt ihm eindringlich in die Augen. Mit einer Kraft, die er nicht vermutet hat, drückt sie seine
Hand. Jetzt muss er etwas sagen, kein Weg führt daran vorbei. Ihre Augen warten fragend auf Antwort.
Er zögert, dann sagt er: „Natürlich kümmere ich mich um die Mädchen. Das mache ich schon die ganze Zeit.“
„Aber dann werde ich nicht mehr bei euch sein.“
„Du wirst nicht sterben. Du wirst immer bei uns sein.“
„Nein, Mario ... Ich spüre es.“ Sie lässt den Kopf in das Kissen sinken. Sie sieht an die kahle weiße Decke und liegt ermattet da.
„Ich weiß es“, sagt sie leise, noch immer die Augen zur Decke gerichtet.
Ein Kloß bildet sich in seinem Hals, die Wangen fangen ungefragt an zu brennen und werden heiß. Tränen stauen sich an seinen Lidern. Er wendet sich ab und versteckt sein Gesicht hinter einem
Taschentuch. Als er sich ihr wieder zuwendet, liegt sie unverändert und weiterhin reglos vor ihm.
Betretenes Schweigen hängt zwischen ihnen in der Luft.
Dann sagt sie: „Ich möchte trinken.“
Wortlos nimmt er die Flasche vom Nachttisch und füllt die Teetasse mit Wasser. Danach schiebt er den rechten Arm unter das Kissen, hebt ihren Kopf an und gibt ihr zu Trinken. Sie trinkt langsam und
muss dabei mehrfach anhalten und Kraft sammeln.
Wieder liegt sie flach auf dem Lager und starrt an die Decke. Noch während er die Tasse abstellt, merkt er ein Zerren am Hemdsärmel. Er beugt sich über sie. Mit großen, nach Luft ringenden Pausen,
haucht sie ihm erschöpft die größte Bitte flehend entgegen.
„Such´ dir eine neue ... Frau.“
Er begreift nicht ganz.
„Eine Frau“, wiederholt sie ermüdet.
„Du bist meine Frau“, hört sie ihn antworten.
„Die Mädchen brauchen doch eine Mama ... Ich bin doch nicht mehr da ... und du bist immer so barsch ...“
Er sagt nur: „Wir beide schaffen das doch, wir haben immer Alles gemeistert. Was soll das?“
„Du ... schaffst das ... ich nicht ...“ Sie atmet tief ein. Man sieht ihr an, dass sie Kraft sammelt.
„Du musst es versprechen!“
„Was soll ich versprechen?“ fragte er weinerlich zurück.
„Versprich doch einfach ... Bitte!“ Jetzt schaut sie ihn nicht mehr an. Sie hat den Kopf zum Fenster hin gewandt und wartet. Sie wartet darauf, dass er das Richtige sagt - jetzt, bevor sie
geht.
Vorsichtig dreht er ihren Kopf zu sich zurück, und sie lässt ihn gewähren. Ihre Augen sind gerötet, und auf den Wangen gleiten in schmalen Bahnen die Tränen herab. Voller Angst schaut sie ihn an.
Angst vor dem, was er sagt. Angst vor dem, was die kurze Zukunft ihr aufbürdet. Ja, er spricht die erhofften Worte: „Ich verspreche es dir. Ich tue alles, was du willst. Ich suche mir eine Frau, wenn
du das willst. Ich finde eine neue Mama für die zwei ... Versprochen, versprochen, versprochen.“
Er drückt sie an sich, dass es ihr weh tut, und liegt nun selbst halb auf dem Bett. So innig wie jetzt haben sie sich seit Monaten nicht mehr berührt. So weit hat es kommen müssen, so viel Leid haben
sie ertragen müssen, um sich noch einmal so nah zu sein.
Ihr „Au“ beendet jäh diese letzte zärtliche Umarmung. Er entlässt sie aus seiner Umklammerung und hilft ihr, eine Lage zu finden, die wenig schmerzt. Als er ihr die Tränen vom Gesicht tupft, erkennt
er, wie leer ihre Augen plötzlich geworden sind, die ihn um Hilfe bittend ansehen. Lange hält er dem Flehen nicht stand und blickt zur Seite.
Schweigen umhüllt sie. Es umhüllt alles im Raum.
Geschwächt liegt sie vor ihm und hat kaum noch Kraft mehr für Worte. Ab und zu verlangt sie, er möge ihr Wasser geben, da sich ihr Mund ständig ausgetrocknet anfühlt.
Unbehagen beschleicht ihn. Er rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum und fühlt, wie ihn langsam eine Last zu Boden drückt, der er scheinbar nicht ausweichen kann, es aber unbedingt möchte. Leise
Worte dringen an sein Ohr. Worte, die er nicht versteht. Sie hat den Kopf wieder dem Fenster zugewandt und spricht fast ohne Stimme. Er geht um ihr Bett herum und hört ihr zu.
„... nicht mehr nach Hause? Ich möchte die Kinder ... sehen.“
Kein Flehen, kein Bitten ist in ihren Augen zu erkennen. Vor Anstrengung hält sie die Lider geschlossen.
Er weicht aus und antwortet nur: „Ja, Heike, mal sehen.“
Nervös geht er an das Bettende, steht dort eine Weile und betrachtet flüchtig die medizinischen Apparaturen. Dann zieht es ihn zum Fenster, durch das schon warme Luft in den Raum gelangt. Er stützt
sich auf die Heizungsrippen und sucht mit dem Blick Halt in der Astgablung eines Baumes vor dem Haus. Die Gablung hält ihn nicht. Er geht an der schneeweißen Wand entlang auf die Tür zu, wendet,
passiert das Bett und setzt sich kurz entschlossen wieder zurück auf den Stuhl. Seine schwache Frau liegt noch genauso da. Ihr gebeugter Rücken zwängt sich durch das offene Nachthemd. Jeder einzelne
Wirbel ist sichtbar.
‚Nur gut, dass sie wenigstens den Rücken nicht zerschnippelt haben’, denkt er. ‚In jeder OP, ob in Ruppin oder Berlin, haben Ärzte von der Bauchseite her geschnitten. Viele schwere Operationen hast
du erdulden müssen. Die erste ist schlimm genug gewesen. Damals hat niemand daran gedacht, dass sich das Leid noch steigern lässt. Der erste Tumor hat sich rasant ausgebreitet. Nach der Untersuchung
haben sich die Mediziner eine Woche Zeit gelassen, diesen Lebenstöter endlich herauszuschälen. Innerhalb jener verfluchten Tage ist er auf das Doppelte seines Gewichtes gewachsen und so groß wie ein
Handball gewesen. Die Wunde ist getackert worden. Die Narbe hat die Form eines langen Reißverschlusses erhalten.
Sämtliche medizinischen Heil- und Kontrollmaßnahmen hast du über dich ergehen lassen. Und was hat es gebracht? Nichts. Ein leises Aufatmen viel leicht. Aber mit jedem neuen Versuch, den Kampf zu
gewinnen, ist es schneller bergab gegangen. Auch die Professoren in Berlin haben weder medizinischen, noch menschlichen Rat gewusst, der wirklich geholfen hätte. Selbst die abschließende Operation,
diese acht Stunden Qual, die du freiwillig auf dich genommen has, nichts hat dir das Leben retten können. Als Zeichen deines Mutes sind nur die Narben geblieben.’
Eine Begegnung im Berliner Virchow-Krankenhaus fällt ihm plötzlich wieder ein und läuft wie ein Film vor seinen Augen
ab:
„Na, meine Lieben, besucht ihr mich, ja?“
„Mama.“ „Mutti.“ Die beiden Mäuse sind ihr an den Hals gesprungen und haben ihre Kinderärmchen darum gelegt. Freudentränen rennen über das Gesicht der Mutter. Aber auch bei Anne sind die Wangen
feucht. Ihre rechte Pupille wandert aufgeregt hin und her. Das Gesicht von Carolin ist nicht zu erkennen. Nur ihr Haarschopf bedeckt fast vollständig das mütterliche Gesicht.
„Ihr habt mir gefehlt.“
„Du uns auch, Mutti“, sagt Anne.
„Wann kommst du nach Hause?“ fragt die Jüngste.
„Heute noch nicht. Der Bauch muss erst abheilen:“
„Der Bauch?“ fragt die Kleine und lässt die Hand auf die Zudecke fallen.
Vorsichtig nimmt die Mutter die Hand und streichelt damit ihr eigenes Gesicht. Die Kinder unterhalten sich lange mit ihr. Nur der Mann steht mit dem Rücken am Panoramafenster und beobachtet etwas
abseits seine drei Frauen. Die Wiedersehensfreude ist riesengroß. Sie sind ganz aufgeregt und miteinander glücklich. Der Mann hört sich das „Geschnatter“ aus der Ferne an. Er weiß, sie brauchen ihn
jetzt nicht.
Nach einer Weile nimmt die Mutter ihren Mut zusammen und sagt: „Wollt ihr mal sehen, was sie mit mir gemacht haben?“
Alle rücken näher an das Bett heran. Die Mutter lüftet die Decke und legt sie über die Beine. Vorsichtig hebt sie das Nachthemd hoch und klemmt es unter die Brust. Auf dem Bauch erscheint ein
riesiges Pluszeichen. Einhundertneun Klammern beißen sich durch die Haut ins Fleisch und halten die großen Schnittöffnungen zusammen. Etwas Schorf verklebt sie.
„Wisst ihr, was das ist? – Das ist mein Hubschrauberlandeplatz. Immer, wenn einer hinterm Haus landet, dann kann ich sagen: Komm her, hier ist noch ein Plätzchen.“
Die Kinder lachen. Ganz behutsam legen sie ihre Finger auf die Metallstücke und streicheln die Haut auf dem Bauch.
‚So haben sie damals den Schrecken vor den Narben auf Heikes Bauch verloren’, sinnt der Mann. ‚Und den Weg hin zur Klinik würde ich noch heute im Schlaf bewältigen.’
Damals ist er drei, vier Mal, allein oder mit den Kindern, nach Berlin gefahren. Kein Wetter hat ihn gescheut. Kein Regen, kein Sturmwind, kein Glatteis. Er ist immer da gewesen, wenn er konnte.
Doch was hat es geholfen? Nichts. Heute ist das längst vorbei, Geschichte, ein Versuch, den Tod an der Nase zu führen. Vergeblich.
Plötzlich bemerkt er eine schwere Hand auf der Schulter. Er schaut nach oben. Neben ihm steht sein Schwiegervater stattlich
da.
„Hallo“, flüstert der Mann, „ich habe dich gar nicht hereinkommen hören.“
„Wie geht es ihr?“ fragt der Schwiegervater zurück, ohne darauf einzugehen.
„Ich glaube, sie schläft jetzt“, sagt der Mann.
„Dann kannst du gehen“.
„Ich bleibe, bis sie wach ist. Es ist noch Zeit.“
Da dreht sich die Kranke schwerfällig auf den Rücken. Nur den Kopf wendet sie den Männern ganz zu. Ihre Hand greift auf den Nachttisch. Ohne Erfolg. Der Mann hastet hinzu und drückt dem
Schwiegervater die Tasse in die Hand. Die schwache Frau trinkt zwei winzige Schlücke und sinkt in das Kissen zurück.
„Papa“, sagt sie tonlos und erfreut.
„Na, meine Tochter.“ Er hält ihr die Hand mit den Schläuchen.
„Du bist ... da!“
„Na klar, bin ich da“, sagt er freundlich.
„Bleibst ... du bei mir?“, fragt sie und greift ihrerseits seine fleischige Hand.
„Ich bleibe bei dir, solange du willst, bleibe ich hier.“ Er versucht ein Lächeln.
„Was ist mit Mutti?“
„Sie ist ... zu Hause, aber ich bin ja bei dir.“
„Das ist schön ... Papa.“
Wortlos schauen sich beide an und halten sich an den Händen. Der Mann am Fußende spürt, dass er stört. Es ist schon häufig so gewesen; in Krisensituationen hat sie lieber auf ihren Vater
zurückgegriffen als auf ihn. Das ist jetzt die Krise. Er ist zuviel in diesem Raum. Er steht daneben. Dazwischen passt er nicht mehr.
‚Ich muss gehen’, entschließt sich der Mann. Er streichelt seiner Frau die Wange und sagt: „Heike, ich geh´ jetzt. Die Kinder ... Wenn die Kinder aufwachen ... Nicht dass sie mich suchen ...“
„Papa ist ja da“, flüstert sie.
Der Mann verabschiedet sich vom Schwiegervater. Schon in der offenen Tür stehend, wendet er sich noch einmal um und sagt: „In zwei Stunden bin ich wieder hier. Dann bleib` ich bis Mittag. Ich
frühstücke nur schnell mit den Kindern.“
„Komm ... allein“, sagt sie sehr, sehr leise.
„Ja, Heike, ich bin nachher da.“
Er verlässt das Zimmer, ohne ein Wort des Abschiedes, ohne ein Lebewohl, ohne zu wissen, dass es ein Wiedersehen nicht geben wird. Er weiß auch nicht, dass es Heike sehr wohl weiß. Ihm ist nicht
klar, welchen Fehler er gerade macht. Er geht einfach und hofft auf weitere Besuche. Klar, er will wiederkommen. Doch das muss er nicht. Nie mehr. Nie wieder wird er die Gelegenheit haben, sich von
seiner Frau zu verabschieden. Er hat die Chance einfach vertan. Vorbei.
Es ist eine schmerzliche Lehre gewesen. In den Jahren danach ist er nie wieder ohne Abschied gegangen. Denn er weiß heute, wie schnell es zu spät dafür sein kann.
ZUHAUSE
In seinen Gedanken ist er noch bei ihr, sieht ihr eingefallenes Gesicht deutlich vor Augen, und auch die dürren Arme mit den blauen,
grünen und gelben Flecken und die knochigen Hände mit den stark angegriffenen Fingerspitzen fallen ihm wieder ein. So schnell wie möglich möchte er die Station verlassen! Hastigen Schrittes
durchquert er den Korridor und rennt die Treppen hinab.
Am Ausgang ruft er zur Schwester: „Ich komme nachher wieder.“
Draußen hat er für die Schönheit der Welt keinen Sinn mehr frei. Aufgewühlt möchte er weg von hier, wo der Tod lauert.
Unsicher rast er den Seeberg hinab. Dabei lässt er den Stadtsee rechts liegen, an dessen Ufer die Schwäne zwischen den Ruder- und Segelbooten umher schwimmen. Kein Mensch ist auf dem Werder davor zu
sehen, die Wiese und die wenigen Bäume stehen verlassen. Nur die Enten schnattern sich an.
Erst in einigen Stunden werden die Touristen und die alten Leute mit ihren Enkeln am Ufer entlanggehen, um die Schwäne und Enten mit altem Brot zu füttern. Oder sie genießen die Sonne und lassen den
Blick über den weiten See schweifen.
Donnernd rollt der Wagen über das graue Pflaster, passiert ein Tor der Stadtmauer, einige kleine Geschäfte und die Kirche. Dann biegt der Mann in Richtung Stadtausgang ab, überquert wieder die
Schleuse und fährt am Park entlang zurück nach Hause. Dort steigt er aus.
‚Das wird ein Sommertag werden, wie er schöner nicht sein kann. Die Morgenluft ist jetzt schon heiß. Die Menschen werden bestimmt an den Strand und ins Wasser gehen, sich erholen oder sich in der
Sonne bräunen. Beneidenswert’, denkt er sich.
Er tritt ins Haus und lauscht. Alles ist ruhig. Er wechselt die Schuhe, geht in die Küche und deckt den Frühstückstisch für drei. Butter, Marmeladen und Käse, Milch und Orangensaft. Für sich brüht er
Kaffee. Der köstliche Geruch durchflutet die offene Küche und zieht in alle Räume.
Um die Mädchen zu wecken, steigt er die Treppe hinauf. Er möchte jetzt nicht allein sein, braucht Gesellschaft, etwas Ablenkung. Das unbekümmerte Geschwätz seiner Kinder würde ihm ganz sicher gut
tun. Vorsichtig weckt er die Kinder. Anne zuerst. Sie ist eingekuschelt, nur die roten Haare und ihre Stupsnase sind zu erkennen. Er streichelt ihr über das verschlafene Gesicht und spricht im
Singsang auf sie ein: „Anne, Annekind, komm, wach auf. Draußen ist das schönste Wetter.“
Sie rekelt sich und schaut ihn mit Schlitzaugen an.
„Papa, du bist ja da. Ich denke, du bist bei Mutti?“
„Das war ich“, sagt er, „Opa ist nun bei ihr. Ich gehe später noch mal hin. Lass uns nach unten gehen. Das Frühstück wartet schon auf uns!“
Im anderen Kinderzimmer wendet er sich Carolin zu. Sie reckt ihren Po in die Höhe. Das Gesicht ist von ihren Haaren verdeckt. Die Nase pfeift leise.
‚Sie schläft so friedlich!’ denkt sich der Mann.
„Carolinchen“, singt er, „Carline. Komm Linchen.“ Dabei schiebt er ihr die Haare aus dem Gesicht und streichelt ihr die Knubbelnase. Sein Kind dreht sich und streckt ihm mit geschlossenen Äuglein die
beiden Hände entgegen. Als er sich herunterbeugt, umschließen sie seinen Hals. Behutsam zieht er sie an sich heran und genießt ihre Schlafwärme. Ein Weilchen sitzen sie so da, bis er ein Rumoren im
oberen Bad wahrnimmt. Anne ist noch nicht aufgestanden, und Carolin drängelt sich noch an ihn. Doch die Töne dringen durch die geschlossene Badtür.
Er will nachsehen.
Noch immer ist der Raum nur ein Rohbau. Spärlich verfugter Gipskarton hängt an den Wänden und auch ins Dach kann man hineinsehen.
‚Irgendwann, wenn wir Geld haben, werden wir hier ein schönes Bad einrichten.’
Dunst hängt in der Luft. Die Fensterscheibe ist mit warmem Nebel beschlagen und einige Kondenstropfen wandern am Glas nach unten. Auf dem kahlen Beton steht seine Schwiegermutter. Sie hängt Wäsche
auf.
Schon seit Wochen sind seine Schwiegereltern regelmäßig hier gewesen, haben ihre Tochter und die Enkel besucht und sich davon überzeugt, dass es ihnen gut geht. So lange wie möglich haben sich alle
um die graue Couch versammelt und für die Tochter, Mutter und Ehefrau alles Notwendige getan. Abends dann ist Heike in seiner Begleitung die Treppe zum Schlafzimmer hinauf geschlichen. Bis ihr der
Weg zu anstrengend geworden ist und sie die Treppe nie wieder betreten hat. Seitdem liegt sie im Krankenhaus. Auch während dieser Zeit sind die Schwiegereltern trotzdem täglich auf Besuch gewesen und
haben ihre Ordnung in sein Haus gebracht. Eine gut gemeinte Ordnung, die ihn eindeutig entlastet, die er aber trotzdem hasst, weil er sich bevormundet vorkommt. -
Nun steht die gute Seele, die Übermutter, hier und hängt Wäsche für ihn auf. Er hat es ja gestern schließlich nicht mehr geschafft. Bravo!
„... Morgen, Mutter“, begrüßt er sie. Dabei hat er die Tür nicht weit geöffnet und hält sich an der Klinke fest. Er könnte platzen vor Wut. „Bist du schon lange hier?“
Die alte, grauhaarige Frau dreht sich nicht um.
„... Morgen“, sagt sie und grabbelt dabei eines seiner Unterhemden aus den Korb.
„Du musst das nicht tun. Das kann ich machen!“
„Wann denn?“ kommt es gereizt zurück.
„Ich hätte bestimmt Zeit dafür gefunden.“
„Das hätte schon trocken sein können, wenn du es gestern aufgehängt hättest.“
„Ich war gestern Abend noch spät bei Heike und war froh, so lange bleiben zu dürfen.“
Sie aber sagt nichts mehr. Die Kinder lauern nun hinter ihrem Vater, drängen auf die Oma zu, überfallen sie von hinten. Für sie unterbricht sie ihr Tun und beugt sich ihnen entgegen.
„Guten Morgen, Anne. Guten Morgen, Carolin. Na, meine Kinder, habt ihr schön geschlafen?“ Sie herzen einander, küssen sich auf den Mund, und auf den müden Gesichtern der Mädchen erscheint ein
breites, frohes Lächeln.
‚Deine Kinder? Meine Kinder!’ schießt es ihm durch den Kopf. Er möchte darauf reagieren, doch er kommt nicht dazu.
„Papa?“ Anne schaut von unten zu ihm herauf. „Gehen wir?“
Er nimmt die eine Tochter an die Hand, die andere will folgen, als er sich umdreht und fragt: „Mutter, möchtest du mit uns frühstücken?“
„Nein, esst ruhig. Ich habe zu tun. Ich will die nächste Maschine ansetzen und diese Wäsche dann in den Garten hängen. Außerdem ...“
Er fällt ihr ins Wort: „Gut, dann nicht. – Kommt Kinder, gehen wir frühstücken!“
„ ... habe ich mit Dieter zuhause gefrühstückt, wollte ich sagen“, brummelt die Schwiegermutter verärgert vor sich hin.
Die Kinder tapsen Stufen hinab. Der Kaffeeautomat schnorchelt laut ein letztes Mal und schweigt nun. Jedoch brummt der Kühlschrank. Er gehört zu den wenigen technischen Dingen aus der sozialistischen
Ära, die im Haushalt die Flut an neuen Konsumgütern schadlos überstanden haben. Die grau-weißen Küchenmöbel hängen und stehen sich in kurzen Zeilen gegenüber. Auf der gemuschelten Arbeitsplatte haben
Obstschalen und einiger Krimskram Platz gefunden. In einer Ecke des Raumes stehen der vorbereitete Tisch, eine Sitzbank und drei Stühle.
Am Tisch sitzend, warten die drei geduldig auf den warmen, goldbraunen Toast.
„Na, habt ihr gut geschlafen?“ fragt der Vater seine Mäuse.
Anne beschmiert sich gerade ihren Toast mit Marmelade.
Ohne aufzusehen, sagt sie: „Ja, Papa. Ich hätte gern noch weiter geschlafen. Ich träumte nämlich etwas von Mutti und Tante Sandra. Wie wir an der Oder spazieren gegangen sind. Aber du hast mich
geweckt, und nun weiß ich nicht, wie der Traum ausgeht.“
„War ich auch dabei?“, fragt die Schwester.
„Gesehen hab´ ich dich nicht, aber ich glaube, du bist dabei gewesen.“
„Und was hast du gemacht?“
„Ich habe in einem großen runden Sandkasten gesessen und habe eine Burg gebaut.“
„Oh, das hätte ich auch gern getan“; sagt Carolin.
Sie essen. Nur aus dem oberen Bad dringt Gepolter. Die Schwiegermutter kommt mit dem leeren Korb die Treppe herunter und belädt im Wirtschaftsraum die Waschmaschine. Da fragt die Jüngste
unvermittelt: „Was ist mit Mami, Papa?“
Der kann nur bruchstückhaft erzählen. Er versucht, das Geschehene in leichteren Worten zu fassen, und gibt belanglose Fetzen ihrer Unterredungen an die Kinder weiter. Schließlich will er sie nicht
verschrecken. Er belügt sie auch nicht, aber er verschweigt ihnen die vielen schrecklichen Einzelheiten. Als er mit seiner Erzählung fertig ist, spricht die zehnjährige Tochter ihren größten Wunsch
aus, den sie doch schon so lange hat.
„Papa.“
„Was ist denn, Anne?“ fragt er abwesend und starrt dabei auf seinen bekrümelten Teller.
Die Tochter versucht es wieder: „Du, Papi“ sagt sie etwas lauter und schaut ihn erwartungsvoll an.
Der Vater blickt jetzt auf: „Ja, mein Liebling.“
„Du, ich möchte Mutti so gern einmal sehen, bitte Papa. Ich habe sie jetzt schon so lange nicht gesehen. Ich weiß gar nicht, wie sie nun aussieht. Bitte! ... Sie fehlt mir so sehr!“
Ihre Stimme zittert, und ihre Hände spielen nervös mit den Fingern. Carolin drückt ihrer Schwester die Hand; sie sind ganz innig miteinander. Der Vater sagt nichts.
„Kann ich mitkommen?“ fragt Carolin.
Der Vater hat seine Worte gefunden: „Ich glaube nicht, dass es gut ist, Mutti heute zu besuchen. Sie ist sehr geschwächt. Wenn es ihr wieder besser geht, ja? Dann nehme ich euch mit. Ich verspreche
es. Heute ist es nicht so gut. Glaubt mir. Wisst ihr, wenn ihr da seid, könnte es sie aufregen, und das wäre nicht so schön, oder?“
„Aber du hast gesagt“, beharrt die große Tochter, „Mutti geht es von Tag zu Tag schlechter. Wenn es schlimmer wird, können wir gar nicht mehr zu ihr.“
„Bitte, Papi, nimm uns mit“, ergänzt die andere und sucht seine Augen mit bettelndem Blick.
„Mit Mutti wird es wieder aufwärts gehen“, sagt er zu den Kindern. „Viel leicht könnt ihr sie bald besuchen, ja?“ Er streichelt seiner kleinen Tochter über das Haar.
Anne will nicht aufgeben: „ Papa, und wenn nicht?“
‚Sie unterhält sich mit dir, als wäre sie erwachsen’, denkt er. Er hat seine Antwort formuliert, doch er zögert, wagt es kaum, sie zu geben. Anne steht nun neben ihm, und Carolin ist auf seinen Schoß
gerückt. Er sieht Anne an: „Mutti sieht noch dünner aus als vor zwei Wochen. Meint ihr nicht, dass es dann besser ist, ihr behaltet sie so in Erinnerung, wie sie hier zuhause aussah? Damit ihr keine
bösen Träume habt?“
„Aber sie fehlt uns so sehr“, schluchzt Anne. Beide Kinder sitzen nun je auf einem seiner Beine. Er umfängt sie mit den Armen, und sie schmiegen sich an ihn. Lange sitzen sie regungslos da. Er spürt
die Tränen an seinem Hals, Anne weint mehr als Carolin.
An der Windfangtür wartet die Schwiegermutter und kann die Tränen nicht halten. Deshalb setzt sie sich draußen auf die Terrasse.
„Kommt“, sagt der Vater, „Kommt, meine Lieben, geht euch waschen, damit der Tag auch für euch beginnen kann. Ich räume jetzt den Tisch ab und wasche ab. Los, los!“ Aufmunternd gibt er den Mädchen
einen Klaps auf den Po.
Er räumt den Tisch ab, wäscht das Geschirr und trocknet es ab. Aus dem kleinen Bad hört er das Rauschen der Dusche und die Stimmen der Kinder. Seine Gedanken sind jedoch bei der Schwiegermutter. Die
vor Aufregung nicht weiß, was sie alles schuften soll, damit sie sich richtig ablenken kann. Er weiß, er müsste sie trösten. Doch sie sind sich gram und gehen sich aus dem Weg.
Es ist nur wenige Tage her, da hat sie gesagt: „Wenn Heike nicht mehr ist, wir nehmen die Kinder.“
„Welche Kinder?“ hat er gefragt.
„Na, unsere Kinder. Es wird für dich doch leichter, wenn du sie nicht versorgen musst. Schau dich doch um, du kommst doch mit der Wohnung gar nicht klar. Wir machen es dir viel
einfacher.“
„Was soll das werden?“ hat er sich entrüstet. „Das sind Heikes und meine Kinder, nicht eure!“
„Das sind unsere Enkelkinder, und für die werden wir sorgen“, kam es verbittert zurück. „Oder bist du in der Lage, zu waschen? Hast du je mal eine Maschine gewaschen?“
„Ja, das habe ich, nicht so oft wie Heike, aber ich kann´ s.“
„Kannst du Bügeln?“
„Sicher!“
„Aber sieh dich doch um, alles, was im Haus passiert, mache ich. Du saugst nicht, du wischt auch nicht den Boden, verdammt!“
„Ich habe es ja gar nicht machen können. Ihr beide habt alles gemacht. Ihr wart schon dabei, wenn ich es beginnen wollte.“
„Du bist zu langsam, Mario. Du siehst die Arbeit nicht.“
„Wenn ich langsam bin, so werde ich eben schneller. Und wenn ich Hausarbeit habe, so werde ich sie schaffen. Anders als ihr, aber schaffen. – Was gibt dir das Recht, unsere Kinder als eure zu
betrachten, nur weil ihr eins verliert!“
Sie hat geweint, er nicht.
(Damals hatte er keine Tränen, dafür später umso mehr.)
Er geht mit der Tageszeitung in der Hand auf die Terrasse. Seine Schwiegermutter ist in den Garten geflüchtet und zieht Unkraut. Er sagt nichts, setzt sich einfach auf einen der Stühle und zündet
sich eine Zigarette an.
„Musst du rauchen?“ fragt sie vom Beet aus.
„Nein, Mutter, ich muss nicht rauchen. Ich versuche nur, auf andere Gedanken zu kommen.“
„Dann mach doch aus. Wenn du zu Heike gehst ...“
Er erwidert nichts. Wortlos drückt er die Zigarette aus und lässt sie zerknüllt im Ascher zurück. Dafür schlägt er die Zeitung auf und versucht zu lesen. Doch die Konzentration fehlt. Keine
Überschrift interessiert ihn wirklich. Er denkt irgendetwas, nur nicht, was er denkt.
Die Kinder haben sich gemeinsam in ein Zimmer verzogen und spielen am Computer. Die alte Frau ist wieder im Haus und arbeitet.
‚Ich sollte ihr helfen’, beschließt er und erhebt sich.
Da klingelt das Telefon. Als er in der Tür steht, sieht er, wie seine Schwiegermutter schnell aus der Küche kommt und den Hörer in der Hand hält.
„Ja, Dieter?“ Sie verstummt. Während des Gespräches wird sie kleiner. Mit feuchten Augen dreht sie sich um und hält dem Schwiegersohn den Hörer entgegen. Dann geht sie und setzt sich an den
Küchentisch. Den Kopf auf die Hände gestützt, weint sie einen See aufs Tischtuch. Mit jeder Träne eine Winzigkeit Hoffnung, bis sie völlig fortgeweint ist.
Er hält den Hörer dicht ans Ohr.
„Mario, bist du dran?“
„Ja, Vater, soll ich kommen, soll ich dich ablösen?“
„Mario, sie hat es geschafft. Heike ist erlöst. Sie hat nun keine Schmerzen mehr“, hört er die schluchzende, weinende Stimme seines Schwiegervaters am anderen Ende der Leitung. Er selbst findet keine
Worte; seine ganze Zuversicht ist Fehleinschätzung gewesen.
„Heike ist in meinen Armen eingeschlafen. - Kommst du?“
Der Schwiegervater erhält keine Antwort.
„Du möchtest sie doch bestimmt noch mal sehen?“
Selbstverständlich will er das.
„Ich bin gleich da ... Ich komme.“
Der Mann ist ziemlich wacklig auf den Beinen. Er geht zu seiner leergeweinten Schwiegermutter und nimmt sie nun in den Arm. Sie drückt ihn an ihren üppigen Busen und heulend halten sie einander. Ehe
er loslässt, fängt sich der Mann. Danach geht er auf die zweite Stufe der Treppe und ruft die Kinder: „Anne! - Carolin! Kommt bitte herunter. Ich will euch was sagen.“
Hintereinander laufen die Mädchen die Stufen hinab. Der Vater nimmt sie an die Hände, die eine zur Rechten, die andere zur Linken. So gehen sie in das Wohnzimmer und setzen sich auf die graue
Couch.
Der Vater sagt: „Der Opa hat gerade angerufen.“
Er nimmt seine Beiden fester in den Arm, so dass sie sich nicht herauswinden können.
„Mutti hat es nicht geschafft.“ Und er blickt sie im Wechsel an. „Sie ist vorhin gestorben. Nun tut ihr nichts mehr weh.“
„Wir wollten sie doch noch besuchen!“
„Ich weiß, meine Kleine, ich weiß. Es ist jedoch besser so. Mutti gefällt uns bestimmt in der Erinnerung besser, wenn sie fröhlich ist und lacht, und nicht krank und traurig ist.“
Die Kinder an seiner Seite weinen. Er hält sie so lange, bis sie das Bestreben haben, ihn zu verlassen.
„Geht nach oben, meine Lieben. Aber spielt in einem Zimmer. Ja, Anne?“
Die Kinder gehen. Auf dem Weg nach oben antwortet ihm die große Tochter: „Ja, Papa, ich werd´ schon aufpassen.“
GROSSE LEERE
Der Mann verabschiedet sich von der Schwiegermutter und geht aus dem Haus. Eilig fährt er im müden Verkehr durch die Stadt und hat
kein Auge mehr für all die Dinge, die weiter passieren. Diesmal stellt er das Auto an der Rückseite des Spitals ab und betritt es durch die hintere Tür. Am Eingang grüßt er die Schwester noch einmal:
„... Morgen. Ich will zu meiner ...“
„Gehen sie ruhig. Und lassen sie sich Zeit“, entgegnet ihm die Schwester mit ernster Mine.
Er geht den Weg, den zu häufig in den Wochen zuvor er hat gehen müssen. Wäre bloß alles ganz anders gekommen! Er eilt die Treppe hinauf. Irgendetwas treibt ihn. Was genau, weiß er nicht.
‚Welche Todsünden hat sie begangen, um so bestraft zu werden?’ – Es fällt ihm keine ein.
Nun ist er auf der Station. Am anderen Ende des Ganges steht eine der Schwestern. Als sie ihn bemerkt, geht sie schnell in den Aufenthaltsraum. Mit schwingenden Scheiben fällt die abgedunkelte Tür
ins Schloss. Nur eine junge Frau, die er nicht so gleich erkennt, betritt aus einem Zimmer kommend den Korridor. Es ist Anke, eine ehemalige Mitschülerin Heikes.
Auf seiner Höhe grüßt sie ihn schnell und möchte an ihm vorbei: „Hallo Mario.“
„Hallo Anke. Was suchst du denn hier?“
„Ich besuche gerade meine Oma. Sie liegt hier in diesem Zimmer. Hat sich den Oberschenkel gebrochen. Sie ist mit dem Fahrrad umgekippt.“
„Oh, das hört sich nicht gut an.“
„Ach, sie ist rüstig. Das heilt. – Und wo willst du hin?“
„Ich geh´ zu Heike. Sie hat hinten das letzte Zimmer.“
Ein Schrecken huscht über ihr Gesicht. Die Nachricht hat sich schnell verbreitet. Wenn die Schwestern und Ärzte selbst den unbetroffenen Patienten keine ständige Fröhlichkeit vorgaukeln können, dann
trauen sich einige Leute zu fragen. Und erhalten Antwort. So ist es auch in den Raum der Oma gedrungen:
„Ist was passiert, Schwester Gudrun?“
„Ja“ sagt sie leise und misst dabei den Puls der stabilen Frau mit dem schütteren grauen Haar.
„Was denn genau?“
„Ach, die junge Frau im letzten Zimmer ist gerade verstorben. Der Vater ist noch bei ihr und weint sich die Augen aus.“
„Sagen Sie mal, wie alt ist sie denn geworden, die Frau?“
„Ich weiß nicht so genau. Dreiunddreißig oder so. Jedenfalls hätte sie wohl bald Geburtstag gehabt.“
„Was hat sie denn gehabt?“
„Krebs – im Endstadium. Wir konnten nichts mehr für sie tun.“
„Oje, so `n junges Ding. Sagen Sie mal, wer ist es denn. Kenn´ ich die?“
„Mag sein, Oma Frieda, aber sagen darf ich das nicht!“
Die zwei auf dem Flur verabschieden sich.
„Viel leicht sehen wir uns mal. Eberswalde ist nicht weit.“
„Wer weiß. Viel leicht“, entgegnet er. Da ist sie schon sechs, sieben Meter von ihm entfernt.
‚Eilig hat sie´ s’, denkt er und geht auf das Totenzimmer zu.
Aus dem Aufenthaltsraum, kriecht bedrückende Stille. Eine der Schwestern macht sich am Ende des Ganges in einem Raum zu schaffen. Als sie ihn bemerkt, wagt sie nicht zu grüßen. Kein „Hallo Herr
Rechenbrecher, besuchen sie wieder ihre Frau.“, kein freundliches „Na, wieder da?“ Nur ein Nicken mit aufeinander gepressten Lippen. Mehr bringt sie nicht fertig. Sie hat all das Leid mit angesehen,
hat jedes Mal miterlebt, wie der Krebs den Körper ausgezehrt hat, bis nichts mehr geblieben ist. Ein aufrichtiges „Ich fühle mit Ihnen“ soll ihr schweigsamer Gruß wohl bedeuten.
Er geht ins Zimmer. Hitze erfüllt den weißen Raum. Der surrende Ventilator kann gegen sie nicht viel ausrichten. Sein Schwiegervater sitzt in sich zusammengefallen auf dem Stuhl vor dem Bett. Er
wirkt nicht mehr stattlich und stark. Seine breiten Schultern beugen sich krumm nach vorn, die Arme liegen bebend auf seinen Oberschenkeln und die fleischigen Finger schlagen nervös aneinander. Der
Blick der trüben Augen ist verschwommen. Auf dem Boden verdunstet langsam die Pfütze seiner Tränen.
‚Dein Haar ist grauer geworden’, denkt sich der Mann, als er ihn so ansieht. ‚Du bist es auch, den sie gebraucht hat in ihrer letzten Stunde, den sie gewollt hat. Du hast sie begleitet. Du bist dabei
gewesen, als sie über die Schwelle getreten ist, als sie den letzten Atem schwach einsog und die verwünschte und ersehnte Ruhe fand. Du hast sie gehalten und ihr die Kraft gegeben, diesen
abschließenden Kampf ohne Angst zu verlieren.’
Nun bemerkt ihn der Schwiegervater. Bedächtig steht er auf, und beide umarmen sich stumm. Der alte Mann drückt ihn ganz fest an sich.
„Sie hat´ s überstanden“, hört er ihn sagen. Noch fester wird er herangezogen; er steht auf Zehenspitzen und das Atmen fällt ihm schwer. Die Worte des Schwiegervaters sind fast ohne Klang: „Ich habe
ihr die Augen zugemacht. Sie konnte es nicht mehr allein.“
Da entlässt ihn der alte Herr aus seiner Umarmung. Der Witwer setzt sich nun selbst hin an das Bett. Er nimmt die angeschlossene Hand seiner Frau in die eigene und verabschiedet sich mit verworrenen
Gedanken.
‚Warum musstest du gehen? Was sollen wir nur ohne dich tun? Du hast immer Rat gewusst, wenn ich einen brauchte! Wie kannst du uns nur so allein lassen? Was sind wir denn noch ohne dich? Nur halb wird
jeder von uns sein. Was sollen die Kinder mit einer neuen Frau anfangen, wenn du doch ihre Mutter bist? Ich verzweifle. Ohne dich ist auch mein Leben kaum etwas wert. Was soll ich tun? Du liegst
hier, friedlich. Deine Qual hat ein Ende. Es ist gut, dass die Kinder dich nicht so hager und verhärmt in Erinnerung behalten. Sie haben eine schöne, junge, fröhliche Mutter vor Augen. Das ist gut.
Es wird ihnen die Zukunft leichter machen.’
Er schaut sie ein letztes Mal sehr genau an und weint. Das Gesicht in die Decke gepresst, nimmt er Abschied: „Du fehlst uns. Du fehlst mir. Ich bin hilflos ohne dich. Niemand hat mich so verstanden
wie du.“
Doch alle Worte sind umsonst gesagt. Auch wenn sie nah vor ihm liegt, so ist sie fern, weit weg, er kann sie nicht mehr erreichen.
Er erhebt sich. Tränen tropfen von seinem Gesicht herab. Seine Wangen sind gerötet und die Augen brennen. Mit gesenktem Haupt geht er an dem Schwiegervater vorbei und sagt in die geschlossene Tür
hinein:
„Vater, ich kann nicht mehr. Ich warte auf dem Flur auf dich.“
„Gib mir einen Augenblick Zeit. Ich komme gleich.“
An jenem Tag sind noch viele vermeintlich wichtige Dinge zu tun gewesen. Die Erledigung aller bürokratischen Angelegenheiten im Krankenhaus oder der Besuch des Bestattungsinstitutes am Marktplatz.
Oder das Zubereiten der Möhrensuppe durch die Oma. Und anderes.
Seitdem fühlt er sich ärmer. Zunehmend ärmer. Seine Versprechen hat er nur zum Teil eingelöst. Klar, er behütet die Kinder – so gut er kann. Doch so gut ist es nicht.
Er ist nicht in der Lage, das zweite, größte Versprechen zu erfüllen. Eine neue Mutter für die Mädchen hat er bisher nicht finden können. Auch wenn er nach einer Ausschau gehalten hat, die es wert
sei, Heikes Platz an seiner Seite und der der Kinder einzunehmen.
Er ist unfähig geworden, die richtigen Dinge zur rechten Zeit zu sagen, wie: „He, lass uns gemeinsam etwas unternehmen.“ Oder „Ich liebe deine Augen und dein Lächeln. Ohne die möchte ich nicht sein.“
Oder „Ohne dich bin ich kein ganzer Mensch.“
Ja, er weiß, er ist nur ein halber, zwar jung an Jahren, mit guter Gesundheit, aber ohne Liebe und ohne familiäres Glück.
Wie es weitergehen wird, wird sich mit jedem neuen Morgen zeigen. Wenn die Vögel den neuen Tag begrüßen; dann hat er die Zukunft vor sich, kann sie anpacken und das Beste für sich daraus
machen.
NACHTRAG
Monate nach dem Tod seiner Frau, sind ihm einige seiner unsäglichen Sätze wieder bewusst geworden.
Ein Dialog ist unauslöschlich. Er weiß nun, dass er eine unentschuldbare Last auf sie lud, die sie bis zum Schluss stumm in sich getragen hat, und er dadurch immer eine Schuld haben wird, die er
nicht tilgen kann. Nie mehr.
„Lass uns miteinander schlafen“, hat er sie fordernd gebeten. Sie verneinte, immerhin ging es ihr wirklich nicht gut.
Ohne Überlegung schossen die Worte aus seinem Mund: „Das könnte das letzte Mal sein“, sagte er.
Schweigen trat ein. Sie wandte sich ab von ihm auf die Seite. Nur ein leises Schluchzen war zu hören. Er legte seinen Arm um sie, und drückte sie sanft an sich - der vergebenen Chance ein wenig
hinterher trauernd. Wortlos küsste er ihr den Hals. Durch die kurzen Haare entblößt, wies er damals schon eine lange tiefe Rille auf, so abgemagert ist seine Frau schon gewesen.
Minutenlang blieb er wach und starrte an die Decke des Schlafzimmers, bis die Gedanken verschwammen, sich die Lider von selbst schlossen und er in einen traumlosen Schlaf fiel.
Das ist lange her. Zu viele verblasste und zu wenig gelebte Jahre sind seitdem vergangen.
Eins steht für ihn fest: Es hat keinen Zweck, nur rückwärts zu schauen. Was die Zukunft ihm bringt, weiß niemand genau. Darum hat er sich für das Leben entschieden. Für seine Kinder und im Sinn
seiner Frau.
Und irgendwann einmal wird er es auch für sich tun...
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In Erinnerung an Dich
An einem Donnerstag
verließest du
die Welt
und gingest
ohne Wiederkehr.
Wir legten dich
zur Ruh´
an einem
stillen Platz
um deiner
zu gedenken
und
dir nah zu sein.
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