Für Dorit
Richard Norbert Gommern (2005)
Geschichte vom Brückenstein
Winter. Es ist Januar 1920. Ein Zug hält in einem kleinen Bahnhof der Mark. Hier macht die Bahn für eine Stunde Rast. Die schwarze Lokomotive hat Zeit, Wasser zu tanken, und der Heizer lagert im
Tender neue Stabbriketts ein. Das Schild der Lok ist dicht bepackt mit weißem Schnee, und noch immer fallen die Flocken groß und dicht.
Da öffnet sich am mittleren Wagon eine Tür, und ein Mann steigt aus. Gekleidet in einem langen grauen Mantel, einem roten Wollschal um den Hals und mit einem dunkelblauen Hut auf dem Kopfe stapft er
den schmalen Bahnsteig entlang.
Er geht nach unten, durch den Tunnel, wieder die vereisten Stufen der hohen Treppe hinauf, läuft durch die breite Halle des kleinen Bahnhofgebäudes, verlässt ihn und bleibt neben den knarksenden
Türen auf dem Treppenpodest stehen.
Eine Pfeife rauchend erkundet er den Vorplatz, betrachtet die knorrigen Bäume und die niedrigen Häuser, die sich unter dem grauen Rauch ihrer Essen ducken. Er beobachtet die Kinder, wie sie johlend
und jubelnd mit ihren Schlitten die Hänge herabrodeln und mit staksigen Schritten mühevoll wieder erklimmen.
Da kommt ein Wind auf. Die Bäume wiegen sich, und es sieht so aus, als grüßten sie Jemanden mit ihren skelettierten Zweigen. Wärme liegt in der Böe, die sein Gesicht streichelt.
‚Welch Augenblick. Was für Magie!’, denkt der Mann.
Auf einmal bemerkt er ein Huschen, und er hört das Schleifen eines langen, voluminösen Kleides über Schnee. Er dreht sich um. Soeben ist eine unbekannte kleine, zierliche Frau an ihm vorbei gegangen.
Sein Herz pocht ihm bis zum Halse. Seine Wangen sind gerötet, und nur mit Mühe kann er ihr hinterher rufen: „Liebste!“
Die Frau wendet sich ihm zu und fragt: „Liebste?“
„Ja“, sagt der Mann und greift ihre beiden weiß beschuhten Hände. „Ja, Liebste. In diesem Moment.“
„Gut“, lächelt sie. „Ich bin bereit, für dich meine Reise zu unterbrechen. Dort steht mein Page. Ich gehe zurück in das Hotel am Marktplatz und buche ein Zimmer für uns zwei. – Magische Momente darf
man nicht verstreichen lassen. Man muss sie nutzen, so lange sie unsere Pfade kreuzen.
Geh nun und hole dein Gepäck. Ich werde auf dich warten.“
Hastigen Schrittes geht er, ja läuft er, zu seinem Wagon, zwängt sich an den Wartenden im Gang vorbei, reißt seinen karierten Lederkoffer aus der Ablage und flüchtet aus dem Zug, dem Bahnhof, seinem
– so dachte er – vorgegeben Leben. Seine schwarzen Schuhe tragen ihn eilig die Allee entlang. Seine Gedanken ziehen ihn in die Mitte der unbedeutenden Stadt, die für ihn ab jetzt die Welt bedeutet.
Beschwingt schwebt er auf das Hotel zu, in dem sie auf ihn wartet, in dem sein neues, unvorhersehbares Leben wartet.
„Magie, ich danke dir“, sind seine ersten Worte, als er die Frau in seine Arme schließt und einfach nur glücklich ist.
„Ich glaube an die Liebe auf den ersten Blick“, flüstert er ihr ins Ohr.
Doch sie schaut ihm strahlend in seine grünen Augen und sagt: „Ich glaube an die sehnsüchtig erwartete große Liebe meines Lebens.“
Stunden um Stunden vergingen. Die Tage und Nächte waren voller Zuneigung und Hingabe und Harmonie. Zu jener Zeit konnte der Mann sein Glück gar nicht begreifen. Er war ausgelassen und jubilierte. Er
sah in dieser Frau, seine Zukunft, sein Leben und sich selbst wachsen. Nichts erinnerte ihn an sein Dasein davor.
So wird aus dem Winter der zarte Frühling. Die Schneemänner werden kleiner, und eines sonnigen Tages sind nicht einmal die Reste ihrer Pfützen übrig. Die Erde bricht auf, und die Blumen erobern die
Beete und Wiesen. Die Bäume verschönern sich mit hellem Grün.
An den Rändern der Stadt verlässt das bäuerliche Getier die Ställe. Die Hähne freuen sich über den Liebreiz der Welt und „besingen“ ihn lautstark vom Morgen bis zum Abend. Die Katzen schleichen umher
und sind einander zugetan.
Auch die Menschen genießen diese Zeit des Aufbruchs. Sie recken die Gesichter in die Höh´ und erfreuen sich an den Fönen, die der Lenz für sie bereit hält. Hurtig hopsen sie aus den langen,
schweren Kleidern und rennen und springen in farbenfrohen, leichten Sachen umher.
Die Erde liegt still und friedlich dar. Nichts stört, und alle sind glücklich.
Eines Abends – beide liegen in ihrem mohnrotem Himmelbett – nimmt sie ihn in ihre wohlduftenden Arme. Schon an der Schwelle des Schlafes hört er, wie sie beginnt zu erzählen.
„Liebster“, sagt sie. „Dein Winter ist nun vorbei, und die Sonne steht höher als je zuvor in deinem Leben. Denn die Wochen waren voller strahlender Schönheit durch dich und mich. Du hast mich
gelehrt, ohne Angst zu vertrauen, um der Liebe und des Glückes Willen. Dafür möchte ich dir danken. Ich schließe dich ein in mein Herz, wo du immer ein Zimmer haben wirst als Freund und Vertrauter.
Für deine Liebe liebe ich dich!
Morgen, mein Liebster, schon morgen kennen wir uns einhundert Tage. Darum werde ich mich dir offenbaren.
Kennst du die Geschichte vom Brückenstein? – Nein? – So will ich dir davon berichten:
Es war einmal – und das ist noch gar nicht so lange her – eine Prinzessin. Sie war reinen Herzens und in den Augen der Männer eine schöne Frau. Doch die meisten wollten nur ihr Äußeres sehen und
waren nicht imstande, die innere Schönheit zu erblicken.
Darum ging sie eines Tages hinaus in den königlichen Wald, betrat eine ehrwürdige Lichtung und klagte dem Himmel ihr Leid. Als sie sich danach auf das Gras legte und ausruhte, hörte sie eine
Stimme.
‚Klage nicht, Prinzessin. Ich werde dir helfen. Für je einhundert Tage sollst du den Männern gehören, die an das Wunder der Liebe glauben. Du wirst dein Leuchten über sie ausbreiten und die Schönheit
ihrer Seele in ihnen entfachen. In der letzten Nacht wirst du aufbrechen und sie verlassen.
Doch nicht ohne Lohn sollst du gehen. Ein Stück ihrer strahlendsten Tugenden soll dein Eigen werden. Denn bedenke, du ziehst zwar durch die Welt, aber in der Welt der Liebenden stehst du an einem
tosendem Gestade. Du, Prinzessin, auf der einen Seite, der Prinz deiner Träume auf der anderen. Ich habe ihn schon für dich auserwählt. Nimm die strahlenden Stücke der Tugend, die du gesammelt hast,
und erbaue daraus – Steinen gleich - eine Brücke der Liebe. Die fester und stabiler wird, je mehr Steine du verbaust. Sie wird dich deinem Prinzen nahe bringen. So nah, bis du keinen Stein mehr
brauchst, einfach Anlauf nehmen kannst, über die schmale Kluft springst und ihm in die Arme sinken wirst.
Doch vor einer Sache noch will ich dich warnen, Prinzessin, Sucherin der Liebe: Wähle gut überlegt Ort und Zeit deines Sprunges. Denn wenn dich dein Traumprinz nicht fängt, so stürzt du tief in das
bizarre Tal der Sehnsucht. Dein Rufen wird verhallen, noch bevor dein Prinz dich erhören kann. Niemand kann dir helfen, die Klippen zu ersteigen und auf deine Brücke zurückzufinden.
Beachte die Warnung wohl!’
So machte sich die Prinzessin auf den Weg, die wahre Liebe der Männer zu finden, sie zu erleuchten und den besten Teil ihrer Tugend für sich zu gewinnen. In der Welt der Liebenden baute sie an ihrer
Brücke Stück für Stück.
Doch da sie mit Ungeduld gegeißelt war, hatte sie schon einmal versucht, auf die gegenüberliegende Seite der Brücke zu springen. Alle Warnungen und Befürchtungen schlug sie in den Wind. Sie sprang
mutig und stürzte sehr tief. Zerschunden und nie wieder äußerlich so schön erklomm sie mühevoll nach langem, sinnlosem Flehen die steilen Hänge der Sehnsucht.
Nur voller Arg und Vorsicht wagte sie die kleinsten Schritte auf ihrer Brücke in der Traumwelt.
Um die Lücke über dem Tal zu verringern, sammelte sie weiterhin die Brückensteine der Tugend von den Männern. Jedes Mal ließ sie nach einhundert Tagen den Liebsten zurück. Aber ihren Traumprinzen hat
sie noch nicht gefunden.
Denn sie hat Angst davor zu springen, zu fallen und erneut verloren zu sein.“
Gelöst und entspannt liegt ihr Liebster da. Keine Traurigkeit ist zu entdecken. Er schläft, und morgen wird er meinen, er habe all das hier nur geträumt.
Mit einem Lächeln und weinenden Augen schaut sie gebeugt auf ihn hernieder. Sie küsst den Mann auf die Stirn und eine Träne fällt auf seine Lippen.
Zweifeld geht sie zum geöffneten Fenster und fragt leise in den Nachthimmel hinein:
„Was ist, wenn ich seinen Brückenstein gar nicht brauche, die ganze Brücke nicht brauche, sondern nur diesen einen Menschen, der mich liebt, wie ich bin, der mich doch mehr erkannt hat als alle
Männer davor? Was ist, wenn ich bliebe, um gemeinsam mit ihm zu träumen und zu leben? Was ist, wenn der Prinz meiner Träume nicht dort, sondern hier in der wirklichen Welt zuhause ist? So gib mir
doch Antwort, Stimme!“
Jedoch nur ein warmer Fön streichelt ihr das Gesicht. Mehr nicht.
Ein Schnaufen und Schurren erklingt auf dem Bahnsteig der kleinen Stadt in der Mark. Einsam wartet eine junge Frau in der Morgendämmerung darauf, dass der erste Zug des Tages endlich zum Stehen
kommt. Eilig öffnet sie die Wagontüre. Der Page bringt ihr Gepäck in das Abteil und wünscht der Frau noch eine angenehme Reise. Ihn hastig entlohnend dankt sie und geht dann auf ihren Sitzplatz
zu.
Sie ist die Einzige im ganzen Zug.
Die Sekunden lassen sich Zeit, in den Tag hinein zu fließen. Ungeduld packt die Frau. Langsam streift sie durch die Gänge der Wagons bis an das Ende des Zuges. An der letzten, schon verschlossenen
Tür bleibt sie stehen.
Da steht ihr Liebster. Er keucht vor Anstrengung. Und er lacht sie an.
Der Zug ruckt an und setzt sich langsam in Bewegung.
Da nimmt der Mann seinen blauen Hut ab und entblößt damit eine winzige, kaum wahrnehmbare Krone. Er läuft neben dem Zug her mit weit geöffneten Armen.
„Spring“, sagen seine Augen. „Komm doch, ich fange dich sicher!“
Die Frau blickt ihn verwirrt und verwundert an.
‚Ich sollte die Tür öffnen, oder?’