(Angermünde)
Richard Norbert Gommern (2012)
Ich
Seit gestern nun bin ich hier, auf Station, auf 3a. Auf der „Psychartrischen“, wie man so sagt. Gestrandet, weil Alles, was vorgestern war, sich berührte, sich drehte, sich verschlang und total falsch anfühlte.
Niemand ist mir eingefallen – nicht einmal die Mu, erst recht nicht Kathrin, der ich doch als Liebste am Ehesten hätte sagen sollen, wie es um mich bestellt ist; auch die (weit entfernten) Freunde hatte ich nicht im Kopf. Das einzig Richtige schien mir, abgeschieden zu werden, psychologische Hilfe zu bekommen, Abstand durch Separierung zu erhalten; Pflichtabstand für mich – und keinen Zugriff der Anderen auf mich zu ermöglichen. Ein Käfig, der die, die mich kaputtmachten (und sich selbst damit beleidigten), aussperrte. Ein Schutzraum zum Besinnen.
Nach dem Telephonat mit dem Krankenhaus…
Ich muss unterbrechen. Ich soll Plätzchen backen. Schließlich ist heute der 1. Adventssonntag.
…bin ich dorthin gefahren (hin zur Notstation) und hatte erste Anzeichen meines Zusammenbruchs schon während des Anamnese- Gespräches. Durch die Fragen des Arztes fügte sich sein Bild über mich zu einem Ganzen. Jedoch für mich nicht. Nur die Masse an Puzzle- Teilchen nahm zu und überschwemmte mich.
Als mich zudem Kathrin aus ihrem Berlin – wie fast jeden Tag – anrief, brach Alles über mich zusammen: Ich war ein Kind, ein verzweifeltes kleines Kind, nur dass mir nicht Irgendwer die Spielsachen weggenommen hatte. Nein. Das Chaos wohnte in mir und kroch auf meine Zunge…
Ich muss mir mein Mittagessen abholen. (Die Schwester blickt schon grimmig- aufmunternd.) Menschen, die essen, legen die quälenden Gedanken für eine Weile in die Ecke. Sie sind zufriedener, vielleicht sogar ein Wenig glücklich.
Wir essen fast stumm an dieser nur für das Wochenende hergerichteten langen Tafel, die mit Wachstuch bedeckt ist, welches einen sehr eigenständigen Scharm in dunklem Lila mit diagonal angeordneten Kreisen in Krem versprüht. Dessen Farbintensität ist durch das häufige Benutzen, das ständige Hin- und Herschieben der Teller und Tassen schon etwas abgeschubbelt.
Eine alte Läjdie, die seit Tagen (wie mir die Anderen versicherten) in ihrer roten Strickjacke, ihrer schwarzen Samthose und den Stiefelhausschuhen herumläuft, setzt sich zu mir. Sie ist dement. Und sie scheint immer hungrig zu sein. Sie fragt mich, was sie zum Mittagessen hatte und ob sie Alles aufaß. Sie erzählt, dass sie Besuch bekommen wird, aber keinen Mittagsschlaf halten möchte. Sie fragt mich, ob sie woanders hingehen dürfe (Ach, sie erzeugt Mitleid in mir.), was ich natürlich bejahe. Schon im Stehen wendet sie sich noch einmal an mich und fragt mich vorsichtig, ob sie denn heute Besuch bekäme.
Ich wende mich von ihr ab, blicke tief in mich hinein, frage mich, ob es richtig ist hier zu sein und murmle für mich den Satz: „So möchte ich nie werden, niemals!
…die Einzelteile überwarfen sich miteinander, drängelten, schubsten, blieben für Sekunden sitzen und waren kaum fähig, in logischer Folge den Mund zu verlassen. Alles, wirklich Alles, fühlte sich in diesem Moment falsch an: Der Vertrauensentzug im Betrieb, mein Aufenthalt in der Notstation, der Inhalt des Telephonates, das Verlorensein meines Selbst, (der Gedanke des Verlieren- Werdens von Kathrin füllte sämtliche Synapsen und versetzte mich in Panik), das Verleugnen meiner hilfreichen familiären Geister, deren Unterstützung ich nicht einforderte…
Die Schwester „überfällt“ mich gerade, spricht mich an und möchte, dass ich mir die Stationsordnung durchlese und dass ich irgendwo dafür, da ich sie nun kenne, unterschreiben soll. Ich lese und unterschreibe.
…sondern gar nicht erst einplante. Ich hatte auf einmal Tränen, Tränen, die sonst nie da waren und auf die ich schon so lange gewartet hatte. Jetzt hatte ich sie. Nur jetzt konnte ich und wollte ich sie nicht gebrauchen. Was bilden sich diese blöden Tränen ein, sich jetzt aus mir zu befreien, wo ich doch so hohe, unerklimmliche Dämme in mir gebaut hatte! Ich heulte.
Unterdessen schlug Kathrin mit Fragen wie Bratpfannen groß auf mich ein: Was hast du gemacht? Sollte ich nicht die Jenige sein – statt der Ärzte – der du dich anvertraust? Hast du deine Kinder angerufen? Weiß deine Mutter davon? Wie soll es weitergehen?
Zu ihrer Zufriedenheit konnte ich nur selten die Fragen beantworten, zu meiner Zufriedenheit schon gar nicht.
Der Arzt rief mich von seinem Zimmer aus zu sich und ich beendete das Telephonat im Flur mit meiner einzigen wahren Freundin, die immer für mich da war und ist. ‚Noch ist’, dachte ich.
Zwei RTW- Fahrer standen gelangweilt auf dem Gang herum. Sie ließen mich in das Fahrzeug einsteigen, verpflanzten mich auf einen wackeligen Stuhl links neben der Liege im Versorgungsbereich und brausten los.
Aus meinem hell erleuchteten Abteil erschien das Draußen da draußen noch schwärzer zu sein als das, was ich je gesehen hatte. Ich ließ den Kopf sinken und beobachtete mein Unwohlsein in der Magengrube, das hin- und hergeschleudert auf diesem Kugelgelenk des Stuhles, immer dann, wenn Holperpflaster unter die Räder kam oder sich einer Schlange gleich das Asphaltband streckte, um sich jäh zu krümmen, anscheinend um den Bauchnabel herumkreiste. Letzten Endes war ich fast glücklich, das Auto wieder verlassen zu dürfen und als wir zu dritt vor dem Krankenhaus standen und für Einlass klingelten.
So schließt sich der Kreis. Seit vorgestern also bin ich hier.
Schon wieder gibt es einen dieser Momente, wo ich mich frage: Was soll ich hier? Was bezwecken Jene, die ich mir hier habe vorsetzen lassen – also Ärzte und Schwestern? Sollte ich nicht über meinen Studienaufgaben brüten und mich ausführlich auf alle Aufgaben des Auftrages für das Seminar vorbereiten? Sollte ich nicht am Dienstag in Berlin zum Gesprächstermin erscheinen, in dem mein Referat besprochen werden wird? Sollte ich nicht an meiner Unterrichtsvorbereitung sitzen, damit ich meinen Beruf erwartungsgemäß erfülle? Sollte ich nicht meine physiotherapeutischen Termine wahrnehmen, damit sich meine Schulter wieder normaler bewegen lässt? Oder geht meine Kopf- und Bauchgesundheit vor?
Hier und jetzt bin ich voller Zweifel. Eigentlich müsste das Alles gleichzeitig passieren.
Ich denke an Heike, meine verstorbene Frau. Schon so lange denke ich an sie, und ich weiß, sie fehlt mir. Ich weiß auch, sie wird nicht auf Station kommen, mich umarmen und von hier wegbringen. Doch wird sie mir weiterhin fehlen. Seit dreizehn Jahren fast ist das so, dass ich sie vermisse. Ich fürchte mich. Ich fürchte, ich werde noch Jahre so verzweifelt und verlassen sein. Auch wenn ich es nicht will.
Doch scheine ich gefangen zu sein, sitzend in einem Karussell, das sich wie rasend dreht, mich nicht frei lässt, ich dazu nicht den Hebel erreiche, es zum Stillstand zu bringen. Immer, wenn ich die Hand ausstrecke und die Finger recke und den Hebel greifen will, dann fehlen die wenigen Millimeter bis zum Griff. Zum Verzweifeln kurz ist diese Strecke. Dieses winzige Stück ist unüberwindbar für mich.
Es hält mich weiter in mich gefangen. Mit allen Fragen und allen Antworten darauf, die alle ins Leere führen.
Wer ist der Held, der mich retten wird?
Nachtrag: Mit zwei Jahren Abstand lese ich diese Zeilen. Vieles scheint beim Alten geblieben zu sein. Dennoch ist alles neu. Keine Tabletten, keine Therapien. – Ich hatte mich damals selbst entlassen. Zuvor hatte ich eine schlaflose Nacht. Dann empfing mich die Realität. Sie ließ mich in Form der Kollegen in Ruhe, keiner bohrte. Einigen davon wird es sicherlich auch arschegal gewesen sein. – Um auf die Frage einzugehen und sie zu beantworten: Der Held bin ich, sind meine Kinder, die wenigen Freunde, die zu mir halten, meine Mu, mein Bruder ab und zu. Trotz dessen: Der Held bin ich, ich rette mich.