Gedichte
Gedichte

(Halle / Saale)

Editha Schlucht (1984 / 2006)
Mutter und Kind

Sehr früh am Morgen, noch bevor die halbe Sonne am Horizont erscheint, verlässt sie ihr warmes Bett. Lautlos schlüpft sie in ihre Sachen. In der fensterlosen Küche kratzt sie das Pulver aus der Kaffeemühle und wirft es in die einzige Sammeltasse. Das Blasen werfende Wasser kreiert einen umwerfenden türkischen Kaffee. Hastig verbrennt sie sich mit einem ersten Schluck die zartroten Lippen.
Dann muss sie schon den Kleinen wecken. Er hat sein eigenes Bett in ihrer beider einzigen Raum. Mit feurigen Wangen und verschwitzten Haaren hat er die Nacht verbracht. Sein Nachthemd ist zu groß für einen Buben von zwei Jahren, aber auch er wird hineinwachsen. Ganz sicher.
Nach einem langen, weichen Kuss flüchtet der Schlaf schnell aus seinen großen Augen. Quirlig, wie aufgezogen hopst ihr Zwerg durch´ s Zimmer; erfüllt er die Wohnung mit Leben. Sie, sie ist nicht allein!
Doch es ist spät, die Zeit drängt ärger als gedacht. Sie müssen sich sputen. Alle eingeübten Handgriffe müssen sitzen. Sie sitzen. Kein Zetern, kein Maulen, kein Meckern. Ein hastiger Biss von der – abends vorbereiteten – Stulle muss auch dem Kinde genügen. Dann gehen sie.
Das krachen des Schlosses hallt im Treppenhaus wider. Es riecht nach dunklem Bohnerwachs. Vorbei an dickfleischigen Pflanzen und schäbigen Türen steigen sie auf den ausgetretenen Stufen die Treppen hinab. Unten an der Ausgangstüre springt der Junge von der vorletzten Stufe: Das Knallen seiner Sohlen dröhnt bis zum Dachboden hinauf.

Draußen weht beiden ein frischer Wind ins Gesicht. Die Bäume wedeln mit ihren belaubten Ästen, und überhohes Gras wiegt sich im Schatten der Mietshäuser. Blasses Blau mischt sich in das Grau des Himmels. Kreisrund steht die Sonne nun höher. Aber der Mond ist noch nicht verschwunden.
Es ist bereits Lärm. Einige Autos tuckern schon und stinken nach ölvermischtem Benzin. Es quillt als rauchiges Abgas aus den Auspuffen der PKWs und hinterlässt schillernde Flecken auf der Straße. Das stumpfe Licht der Scheinwerfer hüllt die blauen Basaltsteine in grüne Streifen. Sie entfernen sich mit dem Schall der Motoren. Von Weitem naht eine Straßenbahn. Ihre Straßenbahn. Sie ächzt und quietscht und rumpelt über die ausgefahrenen Schienen. Mutter und Kind drehen sich ab, um das ohrenbetäubende Bremsen der Tram gedämpfter zu hören.
Beidhändig hilft die Mutter dem Kleinen die hohen Stufen hinauf. Sie nimmt sich einen Platz gegenüber der mittleren Türe und schwingt den müden Sohnemann auf ihren Schoß. Sie reden ein Wenig. Wirklich nicht viel. Nach zwei kurzen Stationen sagt sie: „Halt dich an mir fest.“ Sie springt auf und verlässt die Bahn.
Der Fußmarsch ist eilig. Ihre Arbeit liegt am anderen Ende der Stadt. Gern würde sie jeden Morgen mit ihrem Jungen schlendernd spazieren gehen. Aber es ist nie Gelegenheit dafür. Sie möchte so sehr viel mehr Zeit  mit ihm verbringen als nur die wenigen Stunden nach dem Aufstehen und vor dem Ins-Bett-bringen!

In der Kinderkrippe sind sie mal wieder die ersten. Nur „seine Tante“ ist schon da und nimmt ihn im Empfang. Die Mutter drückt ihn zu fest an sich, küsst ihn auf die Wange und wischt eine Träne ins Taschentuch. Hastig verabschiedet sie  sich von beiden: „Es wird heute später.“ – „Ein Rendez-vous?“ – „Ein Arbeitskollege.“ – „Viel Glück.“ – „Danke.“
Sie geht. Der Tag hat sie jetzt vollends umfangen; und in seinem Rhythmus pocht ihr Herz.

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© M.Becherer