Richard Norbert Gommern (1984 / 2006)
Zugfahrt
Der Tag ist noch nicht so alt. Und ich auch nicht. Mit dem Mädchen meiner Träume stehe ich hier auf dem Bahnsteig. Sein Plateau wölbt sich in eine weite Rechtskurve hinein, sodass man den Anfang
sowie sein Ende nicht einsehen kann. Grau und schwer liegen die Betonplatten unter meinen Schuhen.
Mit kaum verständlicher Stimme kündigt der Bahnhofssprecher meinen Zug an. Es wird wie immer ein dieselgetriebener sein, denn elektrifiziert ist die Strecke erst teilweise. Nun ja, was will ich
erwarten, hier im Nord-Süden der DDR und jetzt, wo doch nicht mal die Hälfte der achtziger Jahre erreicht ist. Ich bin ja heilfroh, dass die Reichsbahn fährt und mich nach Hause bringt: preiswert,
sicher und ziemlich oft auch pünktlich.
Mit meiner Liebsten stehe ich also am Rand des Steiges, hinter mir der tiefe Kanal des Schotterbettes mit seinen Schienensträngen, vor mir die strahlenden Augen meiner Freundin, die durch riesige
Brillengläser in mich hinsehen, auf meinen Lippen ihr gut schmeckender Mund und an meinem Hemd ihre abstehenden Brustwarzen, die der pfeifende Wind hervorstehen lässt und die sich durch ihre dünne
karierte Bluse drücken.
„Bis Montag, Liebling“, haucht sie mir ins Ohr – gerade noch rechtzeitig, bevor der einfahrende Zug beim Bremsen so viel Lärm macht, dass Niemandes Wort mehr verständlich ist.
„Ich liebe dich“, sage ich laut. Doch es klingt wie ein Flüstern.
„Scherze nicht mit mir, Darling“, entgegnet sie mit einem breiten Lächeln.
„Ich scherze nicht. Wenn ich dich noch am Montag liebe, werde ich dich immer lieben.“
„Ach du mit deinen großen Worten.“ Sie küsst mich erneut und heftig. Unsere Zähne schlagen aneinander und meine Unterlippe springt in der Mitte durch diesen Wahnsinnskuss auf.
Der Zug ist inzwischen komplett eingefahren und steht. Die Türen werden geöffnet und die Reisenden steigen aus. Eine Mischung aus freundlichen, müden, gelangweilten, erwartungsvollen, fröhlichen als
auch furchtsamen Gesichtern zieht auf Hälsen und Körpern an uns vorbei, umschifft uns oder weicht nur mit Mühe aus.
Gerüttelt von einem Rempler hält Marie meine Hand, zieht sich an mich heran und sagt: „Ich werde am Montag hier sein...“
„Ich auch. Denn Montag ist ein ganzes Leben.“
Sie fällt mir um den Hals und beißt mir in die Lippe. Sie lacht, lacht mich an: „Ich liebe dich, du Schwachkopf.“ Dann reißt sie sich los. Schon im Rückwärtsgehen ruft sie mir zu:
„Liebling, Montag ist ein ganzes Leben. Wie kommst du nur auf solche Sätze?“
Dann verschwindet sie, flieht die Treppe hinab, bis nicht einmal mehr ein Löckchen von ihr zu sehen ist. Abschiede treiben ihr immer Tränen in die Augen. Nur heute nicht.
Ich schnappe mir meine riesige braune Reisetasche, die voller Dreckwäsche ist, hänge sie mir über die Schulter und besteige den Wagon. Im Wagon sind viele meines Alters, und im Gang stehen ähnlich
große Taschen, alle prall gefüllt. Wahrscheinlich ähnelt ihr Inhalt dem meiner Tasche. Viele Gesichter schauen und starren mich an. Noch immer suche ich einen Sitzplatz. Immer voller und voller wird
der lange Wagon. Das Drängeln und Schubsen wird heftiger. Ich versuche, mich durchzuschlagen bis an das Wagonende, dort wo die Hänger zusammengekoppelt worden sind. Aber auch hier sieht es nicht
wesentlich besser aus. Einige sitzen auf den Stufen mir zur Rechten, als ich die schwergängige Tür des Raucherabteils hinter mir zuziehe. Andere stehen dicht bei den angeklappten Fenstern und lehnen,
etwas Halt suchend, schräg an der Wand.
‚Irgendwo werde ich doch noch ein Plätzchen finden...’, denke ich, bevor ich resigniert mitten im Gang stehen bleibe und mir die Tasche zwischen die Beine klemme. Mit einer Hand stütze ich mich an
der schaukelnden Wand ab. Dreipunkthalterung. ‚Wozu habe ich Physik!’
Nach einer guten halben Stunde kommt Bewegung in die Massen. Zwei Frauen im nächsten Abteil, das ich einsehen kann, erheben sich gemütlich, zerren ihr Gepäck aus den Ablagen über ihren Sitzen und
streben dem Ausgang entgegen auf mich zu. Besser gesagt: Sie wollen streben. An einer Stelle des Ganges befinden sich vier Gepäckstü />
‚Sie ist bestimmt zehn, zwölf Jahre älter als ich, so Anfang, Mitte dreißig’, denke ich mir. Ihre entspannten Gesichtszüge sind
schön, ja fast makellos. Sie hat lange schwarze Wimpern, eine schlanke Nase, blassrote flache Wangen, dunkelblonde Augenbrauen und langes dauergewelltes Haar. Ein winziges Doppelkinn ist
sichtbar, aber ihr Hals ist schmal und eben.
‚Ob Marie auch einmal so oder ähnlich aussieht, wenn sie Mitte dreißig ist?’ frage ich mich. ‚Und wie werde ich aussehen? Mit Bäuchlein und Stoppeln im Gesicht? – Ach lieber nicht dran denken!’
Unablässig, fast zwanghaft beobachte ich die Frau. Sie sitzt – wie ich – auf diesem dreckig-grünen Kunstledersitz mit Seitenkopfstütze. Doch sie nutzt sie nicht. Ihren Kopf hat sie gegen das kalte,
verschmutzte Fenster gelehnt. Das gibt ihr Kühlung. Mit einem Male habe ich das Gefühl, dass sie mich an ein Mädchen erinnert, dass ich vor Jahren im Harz antraf und in das ich mich damals
unsterblich verliebt hatte.
‚Nur gut, dass Maria nichts davon weiß. – Vielleicht sind sie ja miteinander verwandt?’
Ich versuche meinen Blick von diesem schönen Gesicht zu wenden. Darum rutsche ich auf den freien Fensterplatz, ziehe meine Beine nach und schaue mir die dahinfliegenden Landschaften an.
‚Das Glas ist wirklich schmutzig.’ Braune kleine Flecken und grau-braune große Spritzer vernebeln mir überallhin die Sicht. Neben mir saust der Bahndamm vorbei. Das Grobschotterbett hat schon eine
tiefe rostbraune Färbung – vom ursprünglichen granit-grau ist nichts mehr zu sehen. Fahles Gras zwängt sich mancherorts zwischen den Steinen durch. Die Sonne steht schon tief. Ihr kräftiges
orange-rotes Licht lässt die winzigen Dörfer am Rande der Trasse in einem melancholisch-romantischen Zustand zurück. Die weiten, hügeligen Äcker, die durch endlose Kirsch-, Birnen- oder Apfelalleen
besäumt scheinen, reichen frisch geeggt bis an die Horizonte beiderseits des Zuges. In manchen Feldsenken treten Nebel aus und ducken sich dunstig über die Reihen der frischen Saat. Geheimnisvoll
hüllen sie den aufkommenden Abend in ihr weißes Grau ein.
Wieder hält der Zug. Draußen ist der Bahnhof in gelbes, flackriges Licht der Leuchtstofflampen gehüllt. Schattenlos erhellen sie den tristen Bahnsteig vor mir. Nur wenige Menschen sind noch im
Zug und noch weniger steigen aus. Dicht am Fenster vorbei läuft ein Mann in einem langen beigen Mantel. Er trägt schwarze Schuhe und hat es sehr eilig. Ich blicke ihm nicht nach.
Die Frau mir gegenüber ist erwacht. Sie wendet sich vom Trubel draußen ab und sieht sich um. Sie sieht die dicke alte Frau lange an, die eine rote Bluse und einen mittellangen Faltenrock trägt. Ihre
strammen Beine werden von einer hellen, dünnen Feinstrumpfhose bedeckt, die aber am Unterschenkel schon eine kurze zweireihige Laufmasche hat. Ihre kleinen Füße sind angeschwollen, und die
feinen Riemchen ihrer teuren Sandaletten schneiden sich tief in den Spann. Das Gesicht hat die dicke alte Frau hinter dem neusten „Magazin“ versteckt, sodass nur ihr mittellanges, schütteres Haar und
der Hornrand ihrer Brille zu sehen sind.
Mein Gegenüber hat scheinbar von der alten Frau genug gesehen. Mit wachen Augen mustert sie mich. – Und ich mustere sie. Sie hält meinem Blick stand. Klare grüne Augen. Kein Blinzeln. Nur ein
unmerkliches Lächeln kräuselt sich am Mund.
„Du hast mich beobachtet“, sagt sie zu mir, „sehr lange beobachtet.“
„Hat es Sie gestört, dass ich Sie angesehen habe?“
„Nein, aber ich habe deinen Blick schon gespürt, auch mit geschlossenen Augen.“
„Sie sind schön", sage ich unverwandt. "Ich habe überlegt, ob meine Freundin auch einmal so schön sein wird, wenn sie Anfang, Mitte dreißig ist. – Sie sind doch Anfang, Mitte dreißig,
oder?“
Ein breites Grinsen erscheint auf ihrem Gesicht, für einen Moment leuchten ihre Zähne; am rechten Schneidezahn fehlt eine Ecke.
„Du bist ein netter Junge. Mitte dreißig. Vielen, vielen Dank dafür. Solch ein Kompliment habe ich schon lange nicht mehr erhalten", lacht sie. "Wie alt bist du?“
„Ich? – Einundzwanzig.“
„Und was machst du?“
„Ich studiere in Halle.“
„Was genau?“
„Lehrer für ESP, TZ und Werken.“
„Lehrer“, wiederholt sie vielsagend. „Wie lange musst du noch studieren?“
„In gut einem Jahr bin ich fertig. Ich geh ab August nach Hettstedt und werde dort mein Schulpraktikum absolvieren.“
„Hast du was gelernt?“
„Ich studiere.“
„Nein, das meine ich nicht. Hast vorher einen Beruf erlernt. Was weiß ich: Maurer, Dreher, Landwirt. Irgendwas!“
„Nein. Das wird mein erster Beruf sein.“
„Sage mir eins: Wie willst du lehren, wenn dich niemand lehrte, wie das Arbeitsleben aussieht. Was willst du vermitteln, um aus den Kindern Erwachsene zu machen?“
Ein langes Schweigen entsteht. Minutenlang sagt keiner von uns etwas. Da verlangsamt der Zug die Fahrt.
„Ich muss hier aussteigen“, sagt sie. Sie steht auf und greift nach ihren Taschen, die in der Ablage liegen.
„Du hast eine Freundin?“ fragte sie wie selbstverständlich.
„Ja, ich werde in fünf Monaten Vater.“
„Vater“, sagte sie gedehnt. „Und was hast du in deiner Tasche dort, die bald platzt?“
„Schmutzwäsche“, antworte ich wahrheitsgemäß und ärgere mich sofort über meine Offenheit.
„Mutti wäscht?“
Ich erwidere nichts, senke den Kopf und beginne mich zu schämen.
„Du bist ein netter Junge. Ein Junge, der Vater werden will, der andere lehren will und der Mutti waschen lässt. Dein großes Schulpraktikum in Hettstedt wird nicht ausreichen für das, was du noch
lernen musst. Lerne schnell, mein Kleiner.“
Dann dreht sie sich zum Ausgang und entfernt sich. Im Gehen ruft sie in den nun leeren Wagon hinein: „Meine große Tochter ist 19, aber reifer als du. – Und danke für dein Kompliment.“
Der Zug hält und fort ist sie, die Frau, die eine Tochter hat bald so alt wie ich.
Ich fahre noch eine Station weiter. Mein einbeiniger Vater wartet dort auf mich und bringt mich und meine Wäsche nach Hause.